Feindberührung - Kriminalroman
blutige Stücke im Staub auf seinem Gesicht, hatte er zuerst den verwundeten Kameraden in Deckung gezogen und danach nahende Rettungskräfte mit Handzeichen eingewiesen. Dann setzte er sich neben den hysterisch kreischenden Obergefreiten, zog ihn zu sich und streichelte sein Gesicht. Der beruhigte sich tatsächlich, ließ seinen Kopf schwer in seinen Schoß sinken, und die Arme hörten auf, um sich zu schlagen. Wahnsinn, er war ein Heiler! Wenn er die Stümpfe streichelte, würden dem Jungen die Beine nachwachsen. Er lachte laut und weinte vor Glück, und dann sah er, dass der Idiot tot war. Arschloch. Wichser. Er schlug mit der Faust in das blöde Gesicht, die Nase brach, das rechte Jochbein. Zack. Mit beiden Fäusten trommelte er auf den Jungen ein, bis er plötzlich eingequetscht wurde; ein Mann lag auf ihm, und er sah weiße Zähne direkt vor seiner Nase. Von hinten hielt ihn auch einer umfasst, unter seinen Armen durch hatte der seine Handgelenke in eisernem Griff. Etwas Buntes geriet in seinen Blick, was war das denn, die Welt war doch grau? Ein Wort plötzlich: Flagge.
Das Bunte war eine Flagge auf dem Ärmel des fremden Kampfanzugs, er kannte die Flagge, aber es fiel ihm nicht ein, zu welchem Land sie gehörte. Irgendwas Kaltes, viel angenehmer als die Scheißhitze hier, Schnee, eisblauer Himmel und Tannen. Er schmeckte Schnaps auf der Zunge, au fein, das wär jetzt was. Er versuchte sich umzusehen, gar nicht so einfach, die waren ganz schön stark, die Kerle mit der fremden Flagge. Wenn das alles hier aufgeräumt war, musste er unbedingt ins Reisebüro gehen, die Flagge auf ein Papier malen, und dann würde ihm der freundliche Angestellte sagen, wie das Land zur Flagge hieß, und er würde einen Urlaub dort buchen. Hinfliegen.
Er flog ja schon. Schultern und Füße hingen an was dran, sein Hintern schwebte frei im Wind. Dann lag er in einem Wagen, einer der Männer hielt seine Schultern noch, aber viel lockerer als vorher. Er selbst war jetzt auch lockerer, er freute sich auf den Urlaub. Pieks im Arm. Der Herr Doktor, aha. Da fiel ihm ein, dass er immer schon so schlecht gemalt hatte, und er griff nach der Flagge. Ob er die wohl mitnehmen dürfte, fürs Reisebüro? Es gab ein ziemliches Gezerre, und er spürte, wie schwach er war, ja, er brauchte wirklich dringend Urlaub, aber der Herr Doktor war nett. Er schnippelte die Flagge von einer Jacke ab, die im Wagen hing, und gab sie ihm. Er hielt sie fest in der geschlossenen Faust, der Herr Doktor wusch ihm das Gesicht, und kurz vor dem Einschlafen war es ihm doch noch eingefallen: Norwegen. Schön.
Natürlich hatten sie ihn zwei Wochen später nach Hause geflogen. Gefahr einer posttraumatischen Belastungsstörung. Einen Namen musste das Kind ja haben. Er hatte eigentlich nichts gegen Psychoonkels. Wenn man krank war, musste man eben zum Arzt. Aber er war nicht krank. Er war im Krieg gewesen, fertig. Ein Soldat musste damit zurechtkommen. Er machte eine Kur und ein paar Sitzungen beim Truppenpsychologen, weil man ohne das alles nicht so bald wieder in den Einsatz gehen durfte, und dann meldete er sich wieder. Es gab Krach mit seiner damaligen Freundin, er trennte sich von ihr. Dann lernte er Charlie kennen und erzählte einfach nichts von dem Marktplatz, also gab’s auch keine Probleme. Nach einem Jahr zogen sie zusammen, und knapp zehn Monate später war er in Köln-Wahn ein weiteres Mal in die Maschine nach Termez gestiegen.
Der Oktober war in Afghanistan ein guter Monat. Die Sommerhitze von bis zu fünfzig Grad Celsius war endlich vorbei. Der Shomal, der »Wind der 120 Tage«, der von Mai bis September den ganzen verdammten Staub Asiens in ihre Gesichter fauchte, unter die Bristol-Schutzweste und in die unzähligen Taschen mit Ausrüstung, der die Waffen verdreckte und den Zieloptiken zusetzte, die ihnen aber sowieso nichts halfen, weil man bei diesem Staubsturm oft bloß noch einen halben Meter weit gucken konnte; dieser verschissene Wind kam im Oktober garantiert nicht mehr in diese Gegend. Und der Winter mit Temperaturen bis zu zwanzig Grad unter Null war noch weit weg. Ja, hier war der Oktober ein richtig schöner Monat.
Alles eine Frage der Perspektive.
Zu Hause hasste er den Oktober. Im Oktober war der deutsche Sommer definitiv zu Ende, dann war Schluss mit Schwimmen und Surfen am Sonntag und seinen Händen auf Charlies flachem Bauch, die samtig gespannte Haut noch warm von einem ganzen Tag am See. Das war ihr Deal: Samstags fuhr Charlie mit ihm
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