Feinde der Krone
Kapitel 1
E s tut mir Leid«, sagte der stellvertretende Polizeipräsident Cornwallis mit leiser Stimme, wobei sich auf seinem Gesicht Schuldbewusstsein und Bedrückung mischten. »Ich habe getan, was in meinen Kräften stand, aber gegen den Inneren Kreis bin ich machtlos. Weder meine Hinweise auf moralische Gebote noch auf rechtliche Vorschriften haben etwas gefruchtet.«
Pitt stand in der Mitte des Raumes, auf dessen Boden das Sonnenlicht des warmen Junitages tanzte. Durch das Fenster kaum gedämpft, hörte er von der Straße herauf Hufgetrappel, die Rufe der Fuhrleute und das knirschende Geräusch der Räder schwerer Fuhrwerke auf dem Pflaster, untermalt vom Tuten der Vergnügungsdampfer auf der Themse. Er war wie vor den Kopf geschlagen. Nach der Verschwörung von Whitechapel hatte ihm Königin Viktoria persönlich für seinen Mut gedankt und für die Treue zur Krone, die er bewiesen hatte. Er war wieder in sein Amt als Oberinspektor der Wache in der Bow Street eingesetzt worden – und jetzt entließ ihn sein Vorgesetzter erneut! »Das können die doch nicht machen!«, sagte er empört. »Ihre Majestät hat mich doch selbst …«
Cornwallis blickte gequält, zuckte aber mit keiner Wimper. »Doch, die können das. Ihre Macht reicht weiter, als Sie oder ich je ahnen werden. Die Königin erfährt lediglich, was diese Menschen billigen. Selbst wenn wir ihr den Fall vortragen wollten, hätten Sie keinerlei Rückhalt – nicht einmal mehr beim Sicherheitsdienst, glauben Sie mir das. Narraway übernimmt
Sie liebend gern wieder«, stieß er rau hervor. Es schien ihn große Mühe zu kosten. »Nehmen Sie das Angebot an, Pitt. Um Ihrer selbst und um Ihrer Familie willen. Etwas Besseres bekommen Sie nicht. Und Sie machen Ihre Sache gut. Niemand vermag zu ermessen, welch ein bedeutender Dienst an Ihrem Lande es war, dass Sie Voisey in der Whitechapel-Sache das Handwerk gelegt haben.«
»Ganz so ist es ja nicht«, sagte Pitt voll Bitterkeit. »Die Königin hat ihn in den Adelsstand erhoben, und der Innere Kreis ist nach wie vor mächtig genug zu entscheiden, wer Leiter der Wache in der Bow Street sein soll und wer nicht!«
Cornwallis zuckte zusammen. »Ich weiß. Andererseits wäre England jetzt eine Republik, wenn Sie Voisey nicht in den Arm gefallen wären, und im Lande würde Aufruhr herrschen, wenn nicht gar Bürgerkrieg. Voisey wäre jetzt Präsident, denn das war schließlich sein Ziel, und durch diese Rechnung haben Sie ihm zweifellos einen Strich gemacht, Pitt. Daran sollten Sie immer denken, denn er wird Ihnen das auf keinen Fall verzeihen.«
Pitt ließ die Schultern sinken. Er fühlte sich kraftlos und zutiefst verletzt. Wie sollte er das Charlotte beibringen? Sie wäre fuchsteufelswild wegen des Unrechts, das man ihm damit antat, und würde dagegen ankämpfen wollen. Aber man konnte nichts dagegen unternehmen. Das war ihm durchaus klar, und er begehrte Cornwallis gegenüber lediglich auf, weil er den Schock noch nicht verwunden hatte und die Wut über die Ungerechtigkeit, die ihm da widerfuhr, tief saß. Er hatte wirklich angenommen, seine Stellung sei jetzt endlich sicher. Hatte nicht die Königin selbst seine Leistungen gewürdigt?
»Ihnen steht Urlaub zu«, sagte Cornwallis. »Es … tut mir Leid, dass ich Ihnen diese bittere Pille verabreichen musste.«
Pitt fiel nichts ein, was er darauf hätte sagen können. Er brachte es nicht über sich, der bloßen Höflichkeit zu genügen.
»Fahren Sie irgendwo hin, wo es schön ist«, fuhr Cornwallis fort. »Raus aus London, aufs Land oder ans Meer.«
»Ja … das wäre wohl das Beste.« Für Charlotte wäre es so
leichter und auch für die Kinder. Zwar wäre sie nach wie vor tief getroffen, aber zumindest wären sie beieinander. Schon seit Jahren hatten sie immer nur wenige Tage Zeit für sich gehabt, an denen sie einfach durch Wälder oder über Felder gezogen waren, im Freien gepicknickt und träge zum Himmel emporgesehen hatten.
Charlotte war entsetzt, verbarg es aber nach dem ersten Ausbruch, wohl in erster Linie der Kinder wegen. Die zehnjährige Jemima reagierte ausgesprochen empfindlich auf Veränderungen der Gefühlslage im Hause, und der zwei Jahre jüngere Daniel stand ihr darin nicht nach. So sprach Charlotte möglichst viel über die geplanten Ferien und dachte darüber nach, wie viel sie dafür würden aufwenden dürfen.
Nach wenigen Tagen waren alle erforderlichen Vorbereitungen getroffen. Sie würden auch Edward mitnehmen, den Sohn
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