Feine Milde
noch eine Woche Urlaub vor sich, und die Schule fing auch erst in acht Tagen wieder an. Was sollte er mit den Jungen machen? Gabi, von der er seit fünf Monaten geschieden war, juckelte mit einem Freund irgendwo in der Toskana herum und war nicht zu erreichen. Sicher konnten seine Söhne schon mal ein paar Stunden allein bleiben, aber jemand mußte dafür sorgen, daß sie was zu essen kriegten und nicht den ganzen Tag vor der Glotze oder ihren Computerspielen rumhingen. Außerdem, so wie die beiden im Moment miteinander standen, konnte man nicht sicher sein, daß sie sich nicht gegenseitig an die Kehle gingen. Christian hatte seit Freitag abend mit niemandem mehr ein Wort gewechselt.
Ihm war immer noch heiß, aber wenn er jetzt duschte, wurde Astrid bestimmt wach. Er betrachtete sie zärtlich. Sie hatte die Decke bis zu den Oberschenkeln heruntergeschoben, und ihr Haar bedeckte ihre Brüste und Schultern. Wie eine Nixe, dachte er.
Auf nackten Füßen tappte er in die Küche. Seit Astrid eingezogen war, hatte sich in seiner Wohnung einiges verändert. Vorher hatten nur ein paar schäbige Möbel daringestanden, die von Freunden und Bekannten ausrangiert worden waren. Astrid hatte ihre ganzen Sachen mitgebracht. Alles sehr edle, teure Stücke – schließlich hatte sie als Fabrikantentochter nie knausern müssen. Es war auch gemütlich geworden, aber wohl fühlte er sich nicht – es war einfach nicht seins. Nun ja, irgendwann wollten sie sowieso umziehen. Beide brauchten sie ein eigenes Zimmer, und das war in dieser kleinen Wohnung nicht möglich.
Er stellte die Kaffeemaschine an, setzte sich an den polierten Glastisch und nahm sich die Post der letzten vierzehn Tage vor, die die Putzfrau dort sorgfältig gestapelt hatte.
Um kurz nach sechs rief er Norbert van Appeldorn an.
»Ich habe nicht mehr geschlafen«, schnitt ihm van Appeldorn die Entschuldigung ab, und Toppe konnte im Hintergrund Norberts kleine Tochter Nora aus vollem Hals brüllen hören. »Es gibt hier gerade ein kleines Problem«, quetschte van Appeldorn zwischen den Zähnen hervor.
»Bleib mal einen Moment dran, ja?«
Es dauerte eine ganze Weile, und Toppe verwünschte sich, weil er seine Zigaretten in der Küche gelassen hatte.
Van Appeldorn berichtete ausführlich und ein bißchen ungelenk von Breitenegger, dem holländischen Laster und den toten Kindern. Einen persönlichen Kommentar gab er nicht, aber Toppe kannte ihn lange genug und wußte, was die umständlichen Formulierungen bedeuteten.
»Wann fährst du ins Präsidium?« fragte er.
»Wir haben für acht Uhr eine Teamsitzung angesetzt, mit dem ED und Siegelkötter. Bonhoeffer wollte den Pathologiebericht per Boten schicken, gestern abend noch.«
Die Reporter überfielen sie gleich am Eingang des Präsidiums. Von links und rechts wurden ihnen Mikros unter die Nase gehalten, aber Toppe drängelte sich mit starrem Blick zur Treppe durch.
»Wir können Ihnen leider noch gar nichts sagen«, wiederholte Astrid mehrfach und lächelte einigen bekannten Gesichtern zu. »Wir sind gerade aus unserem Urlaub zurückgerufen worden.«
Vom Kopf der Treppe her schallte lautes Händeklatschen. »Meine Damen und Herren!« Siegelkötters Kreidestimme sorgte unvermittelt für Ruhe. »Wenn Sie sich bitte noch ein wenig gedulden mögen. Wir stehen Ihnen selbstverständlich Rede und Antwort. Sagen wir.« Mit weit ausholender Geste legte er seine Armbanduhr frei und tippte mit dem rechten Mittelfinger auf das Glas. »Sagen wir, um zehn Uhr im Konferenzraum.«
Heinrichs stand mit dem Rücken zum Fenster, als sie ins Büro kamen. Er eilte sofort auf Toppe zu, Schmerz in den Augenwinkeln, und umarmte ihn. Astrid schluckte.
Stasi schloß die Tür, setzte sich auf Breiteneggers Platz und faltete die Hände auf der Tischplatte. »Es ist für uns alle sehr bitter«, begann er. »Günther Breitenegger war ein verdienstvoller Mitarbeiter, der eine nicht zu schließende Lücke hinterläßt. Dennoch.« Pause. ». dennoch oder vielleicht gerade deswegen sollten wir gemeinsam all unsere Erfahrung einbringen, den Fall aufzuklären.« Das »auch zum Troste der Witwe« verlor sich im lauten Schweigen der anderen. Van Appeldorn sah aus, als ob er schliefe.
»Ist der Pathologiebericht schon da?« fragte Toppe mit halber Stimme.
Heinrichs hatte auf das Stichwort gewartet und zog rasch ein paar dicht beschriebene Blätter aus einem hellbraunen Umschlag. »Tibiakopffraktur rechts«, las er schnell, unterbrach aber sofort,
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