Felidae 2 - Francis: Ein Felidae-Roman
darfst.«
»Aber können wir das alles nicht hier besprechen, Safran? Wohin gehen wir?«
»Von der Finsternis ins Licht - etwas für die Gesundheit tun ...«
Bevor er den Satz beendet hatte, brach er mit entschlossenem Trippeln auf, und als hätten alle nur auf diesen Startschuß gewartet, entstand unter den Anwesenden, die bis dahin die vorbildliche Disziplin von Konsumenten vor sozialistischen Nahrungsmittelläden an den Tag gelegt hatten, ein heilloses Chaos. Sogleich sprangen ein paar der Blinden wie Lachse gegen den Strom über unsere Köpfe hinweg, um in der hektischen Prozession einen der vorderen Plätze zu ergattern, und es entstand ein aufgeregtes Gedränge auf dem für diese große Masse viel zu engen Steg, als wäre ganz in der Nähe ein Feuer ausgebrochen. Es war jedoch eine fröhliche Aufgeregtheit, allein durch Vorfreude motiviert, und deshalb stand trotz allem Zuvorkommenheit und Rücksichtnahme im Vordergrund. Jeder achtete darauf, daß niemand hart angefaßt oder gar zu dicht auf die linke Seite des Weges abgedrängt wurde und in den Kanal stürzte. Vor allen Dingen aber paßte man sorgsam auf die Kinder auf, die sozusagen den flauschig mobilen Unterbau dieses Gewühls bildeten. Ich konnte mir die plötzliche Unrast nur durch die Aussicht auf ein entfernt liegendes Nahrungsreservoir erklären.
Safran, Niger und ich fanden uns bald am Ende der Kolonne wieder, was dem Häuptling offenbar ganz behagte, da er so in Ruhe zu seinen Erklärungen ansetzen konnte. Durch den langen Aufenthalt in der Dunkelheit war die Lichtempfindlichkeit meiner Augen bis zum äußersten geschärft, und ich vermochte die Verschlungenheit der Anlage nun genauer zu erkennen. Zu meinem Erstaunen sah ich zum Beispiel in der Ferne eine Dreiergabelung, in die unser Abwassertunnel mündete. Drei Kanäle, die genauso aussahen wie der, an dem wir uns befanden, führten von dort aus wer weiß wohin, und diese wiederum stießen bestimmt in krakenhaften Verästelungen auf andere Abzweigungen und machten das unterirdische Wirrsal komplett. Allmählich wurde ich mir klar darüber, daß mein anfänglicher Plan, dem Irrgarten auf eigene Faust zu entfliehen, eine Illusion gewesen war und daß ich ohne die Hilfe des blinden Volkes das Tageslicht nie wieder würde erblicken können.
»Du fragst dich bestimmt, warum wir blind sind, Francis«, sagte Safran im bedächtigen Ton, während wir der begeisterten Karawane hinterhertrotteten. Niger, die zu meiner Linken trabte, lauschte aufmerksam mit gesenktem Kopf, obgleich sie die Geschichte sicherlich schon kannte. »Ganz einfach. Weil wir uns permanent in der Dunkelheit aufhalten und unsere Sehnerven daher im Laufe der Zeit verkümmert, ja sogar nutzlos geworden sind. Aber du wirst es nicht für möglich halten, dieses Manko nehmen wir mit Freuden in Kauf, wenn wir dafür nur von einem Zusammenleben mit Menschen verschont bleiben dürfen. Jeder von uns hat nämlich früher einmal ihre Gastfreundschaft genossen. Auch ich. Mein Halter war ein angesehener Maler und galt in Künstlerkreisen als der Ästhet schlechthin. Mein Zwillingsbruder und ich rundeten quasi als lebendige Blickfänger das düstere Ambiente seiner Wohnung ab. Der Künstler besaß eine Vorliebe für Leder- und Sadomasosex und war ein Anbeter der schlanken Figur. Allein beim Betrachten von irgend etwas Gutgenährtem bekam er schon Würgkrämpfe. Deshalb gab er uns manchmal tagelang kein Futter, damit auch wir seinem körperlichen Ideal genügten. Bei einem seiner verlängerten Wochenendausflüge, wo wir wie üblich in der Wohnung eingesperrt waren, verdurstete mein Bruder, da das Herrchen nicht einmal an ein Schälchen Wasser gedacht hatte. Ein andermal urlaubte er in Ägypten, und die einzige Inspiration, die er von dort mitbrachte, war die der Göttin Bast, die als Statue Ohrringe trägt. Er fand diese Idee geradezu genial und durchbohrte gleich am nächsten Tag auch meine Horcher mit den Dingern. Ich konnte mich danach nie mehr hinter den Löffeln kratzen, ohne daß sich die Krallen in den Ringen verfingen und die Ohrlöcher zum Bluten brachten. Doch immerhin war ich von da ab der Hit auf seinen Parties. Ziemlich unappetitlich wurde die ganze Angelegenheit, als der Künstler in eine Schaffenskrise geriet oder besser gesagt schlicht und einfach den Verstand verlor. Um kreative Eingebungen zu erzwingen, fing er an, mir Wunden zuzufügen und dabei genüßlich meine Reaktionen zu beobachten. Zu diesem Zweck zog er sich stets sein
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