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Felidae 2 - Francis: Ein Felidae-Roman

Felidae 2 - Francis: Ein Felidae-Roman

Titel: Felidae 2 - Francis: Ein Felidae-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Akif Pirinçci
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Baustelle eines sogenannten Hauptsammlers gepilgert, von wo aus die einfließenden Abwässer eines Viertels in die verschiedenen Kanalarme umgelenkt werden. Der Schauplatz war im Grunde ein kreisförmiger, aus Beton gegossener Schacht von gewaltigem Durchmesser und schwindelerregender Tiefe. Überall lagen Baugeräte, Gasflaschen zum Schweißen und jede Menge Stahl- und Holzmaterial verteilt; die Arbeiter schoben wohl gerade Frühstückspause. Die Sonne stand genau über dem Schlund und sorgte so für optimale Bestrahlung. Safran erzählte mir nach der Zeremonie, daß das blinde Volk einmal am Tag solche offenen, zwischenzeitlich menschenleeren Bauplätze aufsuche, um Sonnenenergie zu tanken, da selbst Geister der Finsternis auf das lebenswichtige Elixier namens Tageslicht nicht verzichten könnten. Somit war also das Geheimnis, weshalb die Brüder und Schwestern unter Tage von Rachitis verschont blieben, gelüftet.
    Allerdings gab es schon einige makabre Unterschiede zu uns Normalsterblichen, was das Suhlen im Sonnenschein betraf. Der Grund, weshalb die Blinden ihre Augen während des Sonnens bedeckt hielten, war sicherlich auf den Umstand zurückzuführen, daß ihre welken Sehnerven beim geringsten Kontakt mit der Helligkeit in furchtbare Schmerzen explodieren würden. Zudem aber hatten sie die Vitamin-D-Aufnahme, die bei uns Sehenden mit sich Rollen und Reiben auf dem Boden einhergeht, zu einem festlichen, um nicht zu sagen religiösen Akt kultiviert. Als nämlich Safran, Niger und ich uns in das Zentrum der Andächtigen, die aus, der Vogelperspektive den Eindruck eines düsteren Patchworks erwecken mußten, hineingequetscht hatten, passierte etwas sehr Ungewöhnliches. Wie auf ein Zeichen wurde erneut das schrille »Aaaaaiiiiihhhhh« angestimmt, erst leise, dann mehr und mehr anschwellend, schließlich in einem symphonischen Orkan kulminierend. Auf dem Höhepunkt des frohlockenden Geschreis hoben sie die Vorderpfoten, stellten sich völlig auf die Hinterbeine und reckten sich mit dem ganzen Körper der Länge nach empor, so daß sie Männchen machenden Hunden glichen. Dann öffneten alle gleichzeitig die Augen. Das grelle Licht, das auf ihren Netzhäuten denselben Effekt verursachen mußte wie Säurespritzer, durchflutete jeden einzelnen von ihnen mit stechenden Qualen, und das ergreifende »Aaaaaiiiiihhhhh« erhielt so eine urwüchsige, ins Herz gehende Note. Nun erst verstand ich den Sinn dieses Rufes in seiner ganzen Tragweite. Safran und sein Volk waren mit dem Phänomen des Schmerzes so dicht verwoben wie Fledermäuse mit der Erscheinung des Echos. Von früh an war ihnen Gewalt angetan worden; statt Lebensfreude waren die elementarsten Erfahrungen, die sie als Kinder gemacht hatten, die der Schmerzen und der Trostlosigkeit gewesen. Und auch später, hier in der Kanalisation, war ihnen nicht die erhoffte Erlösung, sondern eine schwere und leidvolle Existenz zuteil geworden. Unter vieler Mühsal und größter Gefahr mußten sie ihre Nahrung erbeuten, sie mußten Dreck, Krankheiten, Verkrüppelungen und die immerwährende Dunkelheit in Kauf nehmen. Das sogenannte Monster hatte sie abermals gelehrt, was Todesangst und Schmerz bedeuteten. So wurde ihr ganzes Dasein mit dem niemals aufhörenden Schmerz verquickt, und der Schmerz entwickelte sich nach und nach zu einem Bestandteil ihres Gefühlslebens, schließlich sogar zum ritualisierten Zwang. Jeden Tag wanderten sie zu solchen Durchbrüchen, um ihre Felle mit dem unentbehrlichen Sonnenlicht zu versorgen. Aber Notwendigkeit und Seelenknacks waren hier eine außergewöhnliche Verbindung eingegangen und schließlich in ein groteskes Zeremoniell ausgeartet. Nun, so schien es, brachten sie dem Gott des Schmerzes ein Opfer dar, indem sie ihre verwundbarsten Stellen, ihre wunden Augen, bloßlegten und ihn auf diese Weise gnädig zu stimmen versuchten. Sie ließen sich inzwischen freiwillig martern, denn ein Leben ohne Schmerzen schien für sie undenkbar geworden zu sein.
    Für einen Moment huschte mir der Gedanke durch den Kopf, daß sie mir mit der Geschichte von Hugo & Co. einen Bären aufgebunden haben könnten. Wahrscheinlich begingen sie die Verbrechen doch selber, weil diese den Höhepunkt ihrer Schmerzmessen darstellten. Ich sollte draußen bei den anderen Artgenossen die Schwarzer-Ritter-Mär verbreiten, damit der Verdacht von den wahren Tätern abgelenkt wurde. Alle sollten in der Gemeinschaft der Barmherzigen einen Bund edler Ritter sehen, nicht einen

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