Felidae 8 - Göttergleich: Ein Felidae-Roman
mit 4.0-Dioptrien so sehen, weil der Kerl sich inzwischen derart oft hat liften lassen, dass er mittlerweile so wirkt, als trüge er seine eigene Totenmaske auf dem Gesicht. Zudem lässt er sich jede Woche die in einer Art Biber-Fasson geformten Haare goldblond färben, sodass er obenrum eine verblüffende Ähnlichkeit mit einem frisch gebundenen Reetdach aufweist. Diese Stilsicherheit gelangt jedoch erst im Zusammenhang mit der stets sonnengebräunten Haut zur vollen Entfaltung, wobei »gebräunt« durch »gerötet« zu ersetzen ist. Nimmt man also die aufgezählten drei Komponenten zusammen, möge man sich Archie als einen bis zur Unkenntlichkeit gelifteten Krebs mit gelbem Moosbewuchs auf dem Panzer vorstellen.
Wie viele Menschen, die noch keinen einzigen Tag in ihrem Leben richtig gearbeitet haben, also über eine 24-Stunden-Freizeit verfügen, beschäftigt sich Archie vornehmlich mit Zeiterscheinungen und Trends. Er braucht nur von einem Hype zu hören, schon macht er sich diesen nicht nur zum Lebensinhalt, sondern gleich zu seiner Kirche. Diese Kirche hieß in seiner aktuellen Lebensphase, nein, nicht Facebook, sondern, ja richtig, Apple. Er war gegenwärtig besessen von den Produkten dieser bei näherer Betrachtung auch recht religiös daherkommenden Firma. Archie besaß einen 27-Zoll-iMac, ein iPad, einen iPod touch, einen iPod shuffle, einen iPod nano und selbstredend ein iPhone, wenn ich mich nicht irre, sogar mehrere. Würde ein Seher, der die spirituelle Aura eines Menschen angeblich röntgengleich zu erkennen vermag, einen Blick auf Archie werfen, würde er wohl über seinem Kopf anstatt eines Heiligenscheins
ein »i« sehen. Oder diesen doofen angebissenen Apfel. Neulich hörte ich die Nachricht, dass inzwischen das zweimilliardste App heruntergeladen worden sei. Ich musste dabei sofort an Archie denken und überlegte, was ein einzelner Mensch mit so vielen Apps nur anfangen will. Bleibt die Frage, von was Archie eigentlich seinen Lebensunterhalt bestreitet. Nun ja, die Frage, wozu Stonehenge gedient haben mochte, hält ja auch diverse spekulative Antworten bereit. Vielleicht hat er sich inzwischen von dieser Krake an Kult-Firma zu einem iArchie umwandeln lassen, quasi zum finalen Produkt aus i und Mensch, gelenkt von iTunes.
Weshalb ich ausgerechnet bei diesem Vollidioten Unterschlupf gesucht hatte, um mein Selbstexperiment bezüglich der Zeitwahrnehmung weiterzubetreiben, besaß mehrere Gründe. Zum einen hatte ich keine Lust, mich bei meinesgleichen im Fall eines neuerlichen Aussetzers lächerlich zu machen. Sancta und Junior hatten zwar versucht, sich auf meine Geschichte einen logischen Reim zu machen, doch was sie wirklich darüber dachten, wollte ich lieber nicht erfahren. Zum anderen behielt ich es mir vor, jederzeit auf fundierte Quellen im Internet zuzugreifen, weil ich hinsichtlich meines Dilemmas auf ein paar Fragen wissenschaftlich wasserdichte Antworten haben wollte. Da Gustav jedoch seit Beginn seiner Auftragsarbeit sein Zimmer, in dem sich der Computer befand, selbst bei Nacht abschloss, war ich gewissermaßen gezwungen, zu Archie auszuweichen. Dann war ja da noch das Experiment selbst, welches quasi unter Laborbedingungen, also ohne irgendwelches Störfeuer und mit voller Konzentration
durchgeführt werden musste. Ich war inzwischen geistig wieder so weit gefestigt, dass ich mich bei einem neuerlichen Auftauchen des Zeitparadoxons nicht von Panik ablenken lassen würde.
Unter Berücksichtigung all dieser Faktoren stellte Archies Stinkebude den idealen Ort dar. Der Hausherr war um Mitternacht meist, ach was, immer besoffen und unter dem Arbeitstisch zu finden. Weshalb er überhaupt einen Arbeitstisch benötigte, da er das Wort »Arbeit« eigentlich nur vom Hörensagen kannte, glich dem Rätsel, wie das Universum entstanden sein mochte. Zumindest ließ der gute Mann gewöhnlich seine Wohnungstür offen, und so tapste ich, nachdem alle im Schlummer lagen, die Hausflurtreppe hinauf und spazierte in Archies Wohnung hinein – um mich mit einem sakralen Bild konfrontiert zu sehen.
Gleich nach der kurzen Diele drang ich ins dunkle Arbeitszimmer ein, wo mich eine Art Altar erwartete. Mit dem Symbol des Gottvaters und des Bildnisses seines Sohnes inklusive. Das Zeichen des Herrn prunkte auf allen bereits oben erwähnten liturgischen Gerätschaften: der doofe Apple-Apfel. Und wie sie alle leuchteten! Tausende brennende Kerzen im Hause des Allmächtigen hätten nicht intensiver strahlen
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