Felidae
allmählich erschöpft waren. Falls nicht noch in letzter Minute eine riesige Goldhand aus dem Himmel fahren und diesem erbärmlichen Spiel ein Ende bereiten würde, würde ich mir einen waschechten Kreislaufkollaps einhandeln. Den Brüdern an meinen Fersen machte der Morgensport offenbar überhaupt nichts aus, denn der Abstand zwischen ihnen und mir verringerte sich zusehends.
Mittlerweile befand ich mich auf der Längsseite des Viertels. Zu meinem Glück wurde die Dachlandschaft ab hier ziemlich unübersichtlich, weil sie sich nicht mehr an die monotonen Sattel- und Walmformen hielt. Ein Chaos von Kuppeln, Sägedächern, Terrassen, Schornsteinen, Treppenaustritten und Feuerleitern ließen in mir das gute alte Dschungelgefühl aufflammen, und ich ließ mich einfach von meinem Instinkt leiten. Prompt stellte sich daraufhin der Erfolg ein, denn meine Jäger verloren mich tatsächlich aus den Augen. Doch sofort, als würden sie auf telepathischem Wege untereinander Signale austauschen, warteten sie mit den urältesten der Jägertricks auf. Sie drifteten fächerartig auseinander, verteilten sich im Dächerdschungel und hetzten mich jetzt jeder einzeln.
Zwischen vier riesenhaften Schornsteinen eingekeilt, brach ich schließlich vor Erschöpfung zusammen und atmete stoßweise. Ich wurde das miserable Gefühl nicht los, da ß ich von diesen Typen umzingelt worden war. Aber für eine Fortsetzung der Flucht fehlte mir sowohl die Kraft als auch die Zuversicht.
Plötzlich ein Knistern! Ich konnte nicht genau ausmachen, woher es gekommen war. Doch war das so wichtig? Sie hatten mich nun da, wo sie mich haben wollten: in der Falle! Und sie würden mich umbringen. Das war so sicher wie Claudandus in den Himmel gefahren war. Mit einem nervösen Kribbeln im Nacken ging ich ganz langsam rückwärts - und trat auf etwas, das mit einem Male nachgab.
Das Dachfenster, das meine Hinterpfoten berührt hatten, kippte nach unten, und ehe ich mich so richtig erschrecken konnte, stürzte ich wie Alice im Wunderland in eine unbekannte Finsternis. Wie nicht anders zu erwarten war, fiel ich auf alle vier Pfoten, aber dieses Glück verschaffte mir noch lange keine Glückseligkeit. Wo, zum Teufel, war ich denn nun schon wieder gelandet?
Ich schaute mich vorsichtig um, und je mehr sich meine Augen an die veränderten Lichtverhältnisse gewöhnten, desto sicherer fühlte ich mich. Denn dieses heimelige Gemach war ein Ort der Geborgenheit. Die samtenen Vorhänge waren halb zugezogen. Abgesehen von dem schwachen Schein der Glut eines rauchenden Holzscheites im offenen Kamin war es dunkel in dem Raum. Das gediegene, altenglische Mobiliar weckte in mir die Vorstellung, da ß jeden Augenblick ein alter Mann mit schneeweißem Bart und roter Robe hereinspazieren, auf dem gemütlichen Schaukelstuhl Platz nehmen und irgendwelche Märchen erzählen würde. Doch statt Sankt Nikolaus lag eine Russisch Blau auf dem Schaukelstuhl und schaute mich mit sonderbar starren, strahlend grünen Augen an.
Sie war ein Prachtexemplar. Ihr Fell war kurz, weich, seidig, vom Körper abstehend - wie ein Robben- oder Biberfell -, von einem mittleren Blauton und mit silbrigen Leithaaren, die ihr einen schimmernden Glanz verliehen. Sie schwenkte leicht ihren Kopf hin und her, als könne sie nicht genau ausmachen, wo ich stand.
»Du bist ein Neuer, stimmt's?« fragte sie mit sanfter Stimme.
»Ja, stimmt. Mein Name ist Francis. Ich wohne seit eineinhalb Wochen ein paar Häuser weiter«, sagte ich.
»Freund oder Feind?«
»Freund!« ereiferte ich mich. »Für ewig Freund!«
»Das ist sehr beruhigend. Es erspart mir eine Menge Unannehmlichkeiten.«
Ihre betörende Schönheit brachte mein Blut in Wallung und ließ mich wie hypnotisiert zu ihr aufblicken. Nur ihre Augen, diese ewig kalten Augen, die an einen zugefrorenen See erinnerten, hatten etwas Unheimliches, ja Totes, an sich.
Sie erhob sich, wollte vom Schaukelstuhl herunterspringen, machte dann aber halt und bewegte wieder ihren Kopf hin und her. Nach diesem merkwürdigen Ritual erst kam sie herunter und schlenderte auf mich zu.
»Es passiert nicht oft, da ß hier Leute vom Himmel fallen. Und wenn, dann führen sie meistens Böses im Schilde.«
»Ich nicht«, entgegnete ich. »Ich bin auch gar nicht vom Himmel gefallen, sondern versehentlich durch das Dachfenster. Ich bin, ähm, ich war nämlich auf der Flucht.«
»So? Vor wem denn?«
»Vor einigen Mitgliedern der Claudandus-Sekte. Sie hatten wohl etwas dagegen,
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