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Felidae

Felidae

Titel: Felidae Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Akif Pirincci
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Ich bin so traurig, da ß ich nichts mehr sehen kann. Alles ist öde und tot. Ich streune eine Weile herum und lege mich dann irgendwohin. Es regnet, und ich werde na ß . Ich habe jede Hoffnung verloren und weiß, dass ich sterben werde. Aber jetzt macht es mir nichts mehr aus, zu sterben. Danach lösen sich die Bilder in ihre Farben und Konturen auf, als habe man sie in eine chemische Lösung getaucht. Sie verschwinden für immer. Und dann gibt es keine Bilder mehr ... «
    Sie hatte Tränen in den Augen und schämte sich deshalb ein wenig. Um sie vor mir zu verbergen, zog sie sich erneut ans Fenster zurück und drehte mir den Rücken zu. Ich blieb da, wo ich war, und blickte ihr gedankenvoll nach.
    »Du trägst die Bilder deiner Kindheit in dir«, sagte ich. »Du warst nicht von Geburt an blind. Da ist ein schreckliches Geheimnis in deiner Vergangenheit. Irgendein Mensch hat irgendetwas mit dir getan. Daraufhin erst wurdest du blind.«
    »Soll ich dir etwas verraten?« meinte sie, und ich nahm einen ironischen Unterton in ihrer Stimme wahr. »Die nettesten Lebewesen, die ich kenne, sind immer noch die Menschen. Wer würde sich sonst so ein blindes Huhn wie mich halten?«
    Sie lachte wieder, und das tat gut, das tat verdammt gut.
    »Du solltest mal miterleben, wenn sich die Unsrigen zufällig hierhin verirren. Sie benehmen sich wie Psychopathen, wie Ungeheuer, wie Bestien. Sie glauben, da ß der ewige Kampf, den sie da draußen kämpfen, hier drinnen weitergeht. Und wenn sie dann plötzlich herausbekommen, mit welcher merkwürdigen Kreatur sie es zu tun haben, sind sie irritiert und reagieren mit noch mehr Wut und Ha ß . Ein komischer Zirkus ist das. Ich sitze schon so lange hier, und all das Leben ist an mir vorbeigegangen, ohne mich wirklich zu berühren. Aber vielleicht habe ich nichts verpa ß t. Angesichts dieses ewigen Kampfes da draußen, meine ich.«
    Sie wurde wieder nachdenklich. Ich wu ß te, da ß sie den Worten, die sie eben ausgesprochen hatte, in Wirklichkeit selbst keinen Glauben schenkte. Ja, das böse Leben war an ihr vorübergezogen wie sich auflösender Nebel, der von den Strahlen der Sonne verscheucht wird. Doch vor allen Dingen war der Kampf an ihr vorübergezogen, hatte sie nie den herrlichen Kampf des Lebens gekämpft.
    »Darf ich dir eine ungewöhnliche Frage stellen, ähm - wie war doch der Name?«
    »Felicitas«, sagte sie rasch.
    »Felicitas, obwohl ich nicht lange hier lebe, weiß ich, da ß sich im Revier seit geraumer Zeit sonderbare Dinge ereignen. Und wie ich aus dem, was du mir bis jetzt erzählt hast, schließe, verfolgst du das Leben und Treiben der Gemeinde, sagen wir mal, auf akustischem Wege. Ich nehme an, deine Ohren sind spitzer als die der wackeren Kämpfer da draußen. Deshalb meine Frage an dich: Hast du in den Nächten der vergangenen Wochen irgendwelche ungewöhnlichen ...«
    »Du meinst die Todesschreie?«
    Mein Unterkiefer klappte herunter. Ich war wie vom Blitz gerührt und glaubte augenblicklich zu Staub zu zerfallen, wenn ich auch nur eine Bewegung tat. Denn jetzt endlich hatte ich meinen ersten Zeugen gefunden. Gewi ß , es war sozusagen nur ein halber Zeuge, aber immerhin besser als überhaupt kein Zeuge. Außerdem hatte Gott die Welt bekanntlich auch nicht an einem Tag erschaffen.
    »Erstaunt dich das? Du hast recht, meine Ohren sind spitzer als die der anderen. Das ist doch kein Wunder, oder? Mein Lieblingsplatz ist hier am Fenster. So bekomme ich von unten vielleicht mehr mit, als jemand, der tatsächlich unten ist.«
    »Dann erzähle es mir in allen Einzelheiten. La ß nichts aus. Was hast du genau gehört?«
    »Warum bist du an dieser Sache derart interessiert?« wollte sie wissen.
    »Na, immerhin geht es doch um Mord.«
    »Willst du in diesem Zusammenhang wirklich einen so dramatischen Begriff gebrauchen? Auf mich machte das Ganze den Eindruck, als handelte es sich nur um eine übersteigerte Form von Rivalität.«
    »Und woraus schließt du das?«
    »Ganz einfach. Ich erkenne jeden Artgenossen an seiner Stimme. Und ihre Stimmen, vielmehr das Geschrei, das sie veranstalten, wenn sie von einer der rolligen Madonnen im Revier gerufen werden, verraten mir auch, wonach ihnen der Sinn steht 8 . Die Schreie, die Todesschreie, die ich in den letzten Wochen gehört habe, stammten allesamt von Männchen, die zuvor schon einen Streit mit einem Nebenbuhler gehabt hatten und die unterwegs waren zu der, die sie gelockt hatte. Und während sie noch laut jaulten, gesellte

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