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Felix Castor (01) - Den Teufel im Blick

Felix Castor (01) - Den Teufel im Blick

Titel: Felix Castor (01) - Den Teufel im Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mike Carey
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Geldanlage-Angebot, das traumhafte Renditen versprach. Ich musste nicht viele Umschläge öffnen, ehe sie den Sturzflug in den schon lange überquellenden Papierkorb antraten. Eine Stromrechnung, schwarz, eine Telefonrechnung, rot … diese Farben wechselten mit der Jahreszeit und erinnerten behutsam an das Verstreichen der Zeit.
    Ich stutzte. Der nächste Umschlag war hellgrau und trug eine Rücksendeadresse, die ich kannte. Die Charles-Stanger-Care-Facility, Muswell Hill. Mein Name stand in einer gepeinigten, verkrampften Handschrift, deren gekrümmte Linien aus einer Ansammlung kurzer, eckiger Striche bestanden, vorne auf dem Umschlag. Es war eine fraktale Handschrift: Wenn man sie musterte, stellte man sich vor, dass sich jeder Strich des Füllfederhalters zu einer Folge Tausender angewinkelter Tupfer misshandelter Tinte auflösen würde.
    Rafi. Niemand sonst schrieb so. Niemand, der geistig gesund war, konnte so schreiben.
    Ich öffnete behutsam den Umschlag und pellte die gummierte Klappe hoch, statt ein Ende einzureißen und dann mit dem Finger den Falz aufzureißen. Rafi hatte mich einmal mit einer Rasierklinge ausgetrickst, die er in die Ecke des Umschlags geklebt hatte. Ich hatte fast das oberste Glied meines Daumens eingebüßt. Diesmal befand sich in dem Umschlag jedoch nur ein einziger Bogen Papier von einem Notizblock. Darauf stand in einer völlig anderen Handschrift als der, in der mein Name zu lesen war (aber immer noch Rafis – er hatte mehrere), eine Nachricht, die allein schon wegen ihrer Kürze bewundernswert war.
    DU BIST IM BEGRIFF EINEN FEHLER ZU MACHEN DU MUSST MIT MIR REDEN BEVOR DU EINEN FEHLER MACHST DU MUSST SOFORT MIT MIR REDEN
    Ich blickte immer noch auf den Brief, unschlüssig, ob ich ihn in die Tasche stecken oder in den Papierkorb fallen lassen sollte, als das Telefon klingelte. Den Hörer abzunehmen war ein reiner Reflex. Wenn ich kurz nachgedacht hätte, wäre er wohl auf der Gabel liegen geblieben, denn er sollte mich in ein Gespräch verwickeln, das ich nicht wollte und auch nicht brauchte.
    »Mister Castor?«
    Es war eine Männerstimme: trocken und rau, mit einem Unterton nachdrücklichen Missfallens. Sie erzeugte vor meinem geistigen Auge das Bild eines Predigers mit einer Bibel in der Hand und einem Finger, der auf mein Herz zeigte.
    »Ja?«
    »Der Exorzist?«
    Ich zog in Erwägung zu lügen, aber da ich mich zu meinem Namen bekannt hatte, war das sinnlos. Außerdem war es allein meine Schuld. Niemand hatte mich gezwungen, den Telefonhörer abzunehmen. Ich hatte es freiwillig als mündiger Erwachsener getan – und jetzt hatte ich einen Kunden.

2
    D as geschah mindestens zehn Jahre nachdem die ersten Toten aufgestanden waren. Ich meine, in ausreichender Anzahl aufgestanden, sodass man es sich nicht mehr leisten konnte, sie zu ignorieren.
    Ich vermute, sie waren schon immer da. Ganz gewiss hatte ich sie als Kind ab und zu gesehen, wenn ich mich an einem Ort aufhielt, an dem es ruhig war und schummriges Licht herrschte. Einmal war es ein alter Mann, der auf der Straße stand und auf nichts Bestimmtes starrte, während die Mütter ihre Kinderwagen durch ihn hindurchschoben und weitergingen; dann ein kleines Mädchen, das sich jede Nacht in der Nähe der Schaukeln auf dem städtischen Spielplatz herumdrückte und kein einziges Mal durch die Luft schwang; oder ein Schemen im tiefen Schatten einer engen Gasse, das sich nicht völlig synchron bewegte, wenn ein Wagen vorbeifuhr. Es war aber nie ein Problem. Nicht einmal für Menschen wie mich, die sie tatsächlich sehen konnten. Die meisten Geister mieden die Gesellschaft anderer, und es war ja nicht so, dass man sie füttern oder hinter ihnen aufräumen oder sauber machen musste. Neunundneunzig Prozent bereiteten einem niemals Verdruss. Ich lernte, sie niemandem gegenüber zu erwähnen und sie nicht direkt anzuschauen, wenn sie Gefallen an mir fanden und mit mir zu reden begannen. Es war nur schlimm, wenn sie sprachen.
    Aber ein paar Jahre, bevor das alte Jahrtausend endete, geschah etwas. Als wäre das kosmische Äquivalent eines großen, bösartigen Kindes dahergekommen und hätte mit einem Stock in den Friedhöfen der Welt herumgestochert, nur um zu sehen, was passiert.
    Die Toten schwärmten aus wie Ameisen … die Toten und noch ein paar andere Dinge.
    Niemand hatte eine Erklärung dafür. Es sei denn, man zählte die zahlreichen Varianten der Aussage »Wir leben in den letzten Tagen, und dies sind die Zeichen und Wunder, die

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