Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Felix Castor (01) - Den Teufel im Blick

Felix Castor (01) - Den Teufel im Blick

Titel: Felix Castor (01) - Den Teufel im Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mike Carey
Vom Netzwerk:
prophezeit wurden«. Das war ein Argument, das bis zu einem gewissen Punkt plausibel klang. Die Christen und Juden hatten von Anfang an auf eine leibliche Auferstehung gesetzt, und genau das schienen die Menschen zu kriegen. Aber die Bibel war beim Thema Werwesen seltsam zurückhaltend, beschränkte sich auf die Erwähnung von Dämonen und ließ Geister völlig außer Acht, daher schienen Christen und Juden in keiner besseren Position zu sein als alle anderen, was die Erklärungshoheit anging.
    Die theologischen Diskussionen tobten wie ein außer Kontrolle geratenes Buschfeuer, und unter den Rauchwolken, die sie erzeugten, veränderte sich die Welt zwar nicht über Nacht, aber langsam und unwiderruflich wie eine Sonnenfinsternis oder wie Tinte, die in Löschpapier eindrang. Die verheißene Apokalypse fand nicht statt, aber neue Testamente wurden trotzdem geschrieben, und neue Religionen blühten auf. Für Leute wie mich taten sich neue, aufregende Tätigkeitsfelder auf. Sogar der Stadtplan von London veränderte sich, was, soweit es mich betrifft, am schwersten zu glauben und zu akzeptieren war.
    Sie müssen wissen, dass ich woanders geboren wurde – oben im Norden, über dreihundert Kilometer vom Big Smoke entfernt –, und die Art, wie ich London betrachte, ist die eines Außenseiters und Stück für Stück während der letzten zwanzig Jahre entstanden. Wenn ich mir die Stadt im Geiste vorstelle, dann neige ich dazu, sie in einfachen, schematischen Begriffen zu sehen – wie einen Käfig voller Schlangen, Orange auf Grün auf Blau, so wie man es auf der Innenseite des Straßenverzeichnisses finden kann. Dort, wo die größte Schlange – die Königspython, die Themse – genau durch die Mitte verläuft, befindet sich die Null-Zone. Geister können kein fließendes Wasser überqueren, und sie mögen noch nicht einmal sein Rauschen. Kleinere Dämonen und Werwesen scheuen gewöhnlich ebenfalls davor zurück, wobei das nicht allzu bekannt ist. Daher ist der Fluss ein geeigneter Aufenthaltsort, außer wenn man mit den Toten kommunizieren will.
    Gehen Sie nur ein paar Schritte in irgendeine Richtung, bis sie die Themse hinter sich nicht mehr sehen können, und sie befinden sich in einer Stadt, die ein größeres Bevölkerungszentrum ist, seit Gog und Magog sich etwa Mitte der Steinzeit auf ihren beiden Hügeln niederließen und die Füße hochlegten. Vom Krieg zum Teil zerstört, von Aufständen ausgeweidet, vom Feuer ausgelöscht und von der Pest entvölkert verzeichnete die Stadt ein Verhältnis von etwa zwanzig Toten auf jeden lebenden Einwohner, und dieses Verhältnis konzentrierte sich vorwiegend im Zentrum, wo die Stadt am ältesten war.
    Es war nicht so trostlos, wie es klang, denn nicht jeder, den man in die Erde bettete, kam zurück. Es gab viele, die damit zufrieden waren, ihre Zeit zu verschlafen, und diejenigen, die zurückkamen, blieben oft lieber an einem einzigen Ort als herumzuwandern und bei den Lebenden schließmuskellösendes Grauen zu erzeugen. Die meisten Geister waren an den Ort gebunden, an dem sie gestorben waren, dicht gefolgt von dem Ort, an dem sie beerdigt worden waren (wodurch sich die Viertel rund um die innerstädtischen Friedhöfe in kürzester Zeit in Slums verwandelten). Zombies waren lediglich Geister, die in ihrer Beweglichkeit noch stärker eingeschränkt waren, da sie ihre eigenen toten Körper bewohnten, und was die loup-garous betraf, die Werwölfe … nun, mit denen werden wir uns an geeigneter Stelle befassen. Aber manchmal irrten Geister ziellos herum, getrieben von Neugier, Einsamkeit, Sorge, Langeweile, Mutwillen, irgendeinem Groll, einer inneren Unruhe, irgendeiner Abhängigkeit – irgendeine unerledigte Angelegenheit ließ ihnen bis zum immer noch fernen Tag des Jüngsten Gerichts keine Ruhe.
    Ich rede hier über die Toten, als hätten sie menschliche Emotionen und Motivationen. Entschuldigung! Das war ein weitverbreiteter Irrtum, aber jeder Experte lieferte zu diesem Thema eine andere Erklärung, ob man ihn darum bat oder nicht. Geister sind Reflexionen in Jahrmarktspiegeln, verzerrte Echos vergangener Emotionen, die ihr Haltbarkeitsdatum überdauert hatten. Manchmal war noch irgendein Rest von Bewusstsein vorhanden, der sie lenkte, sodass sie auf eine grobe und schlichte Art und Weise auf ihre Umwelt reagieren konnten, häufiger aber war das nicht der Fall. Das Letzte, was Sie tun sollten, ist, den Fehler zu machen, sie als normale Menschen zu betrachten. Das war die

Weitere Kostenlose Bücher