Fern wie Sommerwind
zusammen gekocht hat.
Ich fühle, wie mir warme Tränen über die Wangen laufen. Ganz leise tropfen sie vom Kinn in meinen Schoß. Kein Schluchzer. Kein Nasehochziehen. Ich lecke über meine Lippen und schmecke das Salz. Und zum ersten Mal wünsche ich mir, meine Mutter könnte hier sein.
Eine ganze Weile später begleitet der Pfarrer uns nach draußen. Die Sonne blendet mich und kommt mir plötzlich ganz unnatürlich vor. Er verabschiedet sich mit einem langen, warmen Händedruck und erzählt, er hätte vorhin ein wenig herumtelefoniert und es würde morgen jemand in Irmis Haus vorbeikommen, um sich um das Weitere zu kümmern. »Heinrich, heißt der Mann«, erklärt er uns.
Martin und ich laufen zurück, langsam. Ich möchte noch nicht wirklich wieder in das Haus. Aber die Wege sind kurz, und nachdem wir schon zwei Runden um den Häuserblock gegangen sind, setzen wir uns endlich auf die Veranda. Fürs Erste.
Martin bietet an, einen Tee zu kochen. Ich bleibe draußen auf der Treppe sitzen. Von mir aus können wir den ganzen Abend hier sitzen bleiben.
Und das tun wir dann auch. In eine Decke gewickelt trinken wir Tee und essen Brot mit Marmelade. Die Kerze flackert. Die Mücken stechen sogar durch die Jeanshosen, aber das ist mir egal. Wir sprechen fast gar nicht. Nur hin und wieder fragt Martin, ob ich etwas brauche. Aber ich brauche nichts. Erstaunlich, dass es Augenblicke gibt, in denen man gar nichts braucht. Obwohl, so ganz stimmt das nicht. Dass Martin da ist, das brauche ich sehr wohl. Ich kann hier in diesem Haus nicht alleine bleiben. Das halte ich keine Sekunde aus.
»Wenn ich sterbe, möchte ich nicht so allein sein wie Irmi.« Wenn ich mir das nur vorstelle, steigen mir die Tränen in die Augen.
»Niemand will alleine sein. Sogar wenn man nicht stirbt, möchte man nicht alleine sein.« Martin zieht die Decke fester um meine Schultern.
»Von einem Moment auf den anderen wird das Leben kompliziert.«
»Ich glaube, das Leben ist immer irgendwie kompliziert. Bisher haben nur die ganzen Erwachsenen um uns herum alles gut von uns ferngehalten«, überlegt Martin.
»Ich finde, die Erwachsenen sollten einen besser darauf vorbereiten.«
Draußen vor dem Gartentor drücken sich ein paar Kinder rum und zünden Knaller an. Lachen sich halb schlapp bei jeder kleinen Explosion.
Ich springe auf. »Hey! Verschwindet hier!«
»Nora. Krieg dich ein.« Martin zieht mich am Arm wieder zu sich runter.
»Ja.« Ich merke selbst schon, dass es blöd war. Aber ich fühle mich so … hilflos. Ja.
Wir bleiben auf der Holztreppe sitzen, bis alles still geworden ist. Keine Touristen mehr auf den Straßen, keine Musik aus der Fußgängerzone. So lange, bis wir die Mücken nicht mehr ignorieren können. So lange, bis selbst die Decke das Frösteln nicht mehr verhindern kann.
Im Haus riecht es nach Irmi. Nicht der Toten, sondern der, die noch vor zwei Tagen in der Küche Mittagessen gekocht hat.
Martin und ich löschen überall das Licht und gehen nach oben in mein Zimmer, lassen die Tür geöffnet und legen uns mit unseren Sachen ins Bett, nur die Schuhe ziehen wir noch aus. Martin schmiegt sich an meinen Rücken, ganz eng, ich nehme seinen Atemrhythmus in mich auf. Irgendwo da draußen rauschen die Wellen, vom Wind getrieben. Immerzu.
HEINRICH KOMMT, ALS Martin und ich am Frühstückstisch sitzen. Er ist etwa im gleichen Alter wie Irmi, hat einen weißen Bart und weißes struppiges Haar. Er sagt nicht viel, reicht uns die Hand und bleibt dann unschlüssig in der Küche stehen. Seine Augen sind gerötet. Hat er geweint? Oder ist er vielleicht krank?
Ich biete ihm Frühstück an, aber er winkt ab. Martin und ich wechseln einen Blick und Martin zieht ganz diskret seine Schultern hoch. Als das Schweigen unangenehm wird, frage ich Heinrich, ob er sich das Haus angucken möchte. Er nickt kaum merklich und ich führe ihn ins Wohnzimmer.
»Könnte ich ein Glas Wasser haben vielleicht?«, fragt er mit heiserer Stimme.
Ich gehe zurück in die Küche und fülle ein großes Glas mit Wasser. »Der ist ein wenig unheimlich, oder?«, flüstert Martin und fängt an, den Frühstückstisch abzuräumen.
»Ich glaube, er ist einfach nur traurig«, erwidere ich leise, trockne den Glasboden mit einem Handtuch und gehe wieder ins Wohnzimmer.
Heinrich sitzt auf dem Sofa und starrt an die Wand. Ich reiche ihm das Glas, traue mich aber nicht, mich neben ihn zu setzen, weil Irmi doch noch vor Kurzem tot dalag. Sollte ich das Heinrich
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