Fern wie Sommerwind
kriege Angst. James fährt mit den Fingern durch den Sand. Als sie schließlich auf unserer Höhe ankommen, bleiben sie stehen.
»Hi«, grüßt der eine.
»Hi«, erwidern wir fast im Chor.
Und dann … ein schiefes Lächeln an beiden Fronten. Und die Bockwurstjungs laufen plötzlich einfach weiter, dem Leuchtturm entgegen.
Wir verharren eine ganze Weile und sehen ihnen nach.
»Was war denn das?« Ich bin baff. Alle anderen genauso und deshalb antwortet mir auch niemand.
»So, es reicht jetzt Freunde, ich muss ins Bett.« Rocco schwankt beim Aufstehen.
Während sich alle schweigend auf den Heimweg machen, nimmt Ruth mich noch einen Moment zur Seite. »Hör mal, ich habe mir da was überlegt. Wir zwei, wir sollten Brieffreundinnen werden. Ich meine, keiner schreibt heute mehr Briefe. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich meinen letzten bekommen habe. Du etwa?« Sie wirkt ganz aufgeregt.
»Ich habe hier einen an meine Mutter geschrieben.«
»Siehst du, dann bist du schon voll in der Materie. Ich glaube, das könnte cool werden. Irgendwie romantisch. Und seien wir doch ehrlich, wir werden uns sonst aus den Augen verlieren.«
»Nein. Das darf nicht passieren«, pflichte ich ihrem Plan bei und umarme sie.
Eine Brieffreundin also. Es gibt einiges, was ich von hier mit nach Hause nehme: einen Bernsteinring, mein hart verdientes Geld, die Liebe zum Meer, Irmis Karton, eine Brieffreundin, einen Freund, der bald in Berlin leben wird, und das gute Gefühl, etwas erlebt zu haben, was immer zu mir gehören wird.
Für Martin und mich ist es die letzte Nacht in Irmis einsamem Haus.
Wir schlafen ein letztes Mal miteinander. Danach bleiben wir die ganze Nacht wach. Wir liegen mit offenen Augen im Bett, starren an die Decke.
»Ich weiß nicht, wie ich es ein Tag lang ohne dich aushalten soll.« Martin dreht sich zu mir und fährt mit seinen Fingern über meinen Bauch.
Ich sehe in sein wunderschönes Gesicht.
»Ich habe hier in den wenigen Wochen mehr erlebt als in meinem ganzen Leben. Ich habe immer gedacht, dass man dafür Gott weiß was machen muss. Aber das stimmt gar nicht. Das Leben passiert einfach. Ist das nicht verrückt?«
Martin lächelt.
»Ich bin so ungeduldig«, flüstere ich weiter. »Und ein Kontrollfreak. Wenn ich nicht endlich losgelassen hätte, dann hätte ich dich nie geküsst.«
»Aber das hast du.«
»Ich habe die ganze Zeit darauf gewartet, dass du es tust. Glaub ich jedenfalls.«
»Ich habe mal im Ferienlager ein Mädchen geküsst. Nancy Steger. Einfach so. Dafür habe ich eine Ohrfeige kassiert. Ich lerne auch dazu.«
Ich muss lachen bei dem Gedanken an Martin im Ferienlager. Das ist so weit weg. Dabei waren es wahrscheinlich nur fünf Jahre. Was wird wohl in den nächsten fünf Jahren sein?
Ich sehe mir Martins Oberkörper an, die schön gebräunte Brust, wie sie sich gleichmäßig hebt und senkt.
»Schläfst du?«, frage ich.
»Nie mehr, wenn du in der Nähe bist.«
Das ist schön, dass er das sagt. Alles bleibt gut, denke ich, und jetzt kann ich die Augen schließen.
VOR DEM WEISSEN Bahnhofsgebäude ist es noch ganz ruhig, als wir uns am frühen Sonntagmorgen dort treffen. Wir stehen alle fünf herum und sehen betreten aufs Gleis. Der Zug Richtung Rostock wird Ruth und James mitnehmen, in sieben Minuten schon. Dann folgt der nach Berlin mit Rocco und mir. Nur Martin bleibt.
»Was ist in der Tasche?«, fragt Ruth und lugt in meine schwere Tüte hinein.
»Ah. Das hätte ich fast vergessen. Selbst gemachte Marmelade von Irmi und mir. Jeder von euch muss ein paar Gläser mitnehmen, bitte.« Ich hole jedes Glas einzeln heraus, streiche über die Deckel und verteile sie an alle.
»Ich mag ja vielleicht ein Grobian sein«, sagt Rocco, »aber Irmi, die bleibt.« Und dabei tippt er auf seine linke Brust.
Die Durchsage für den Rostock-Zug kommt und plötzlich werden wir hektisch. Umarmen und drücken uns. Rocco klopft James auf die Schulter. »Bist cool, echt. Hab ich erst nicht gedacht, aber dann … nee, echt cool Mann.«
Der Zug fährt ein.
Ruth reibt sich die Tränen aus den Augenwinkeln. »Bis bald auf Skype.« Rocco umarmt sie und wirbelt sie im Kreis.
»Man sieht sich.«
»Goodbye.«
Sie und James steigen ein. Ein letzter Blick durchs Fenster, ein Winken. Das war es dann. Der Zug verschwindet mit wildem Quietschen.
»So, ich hole mir jetzt da drüben ein Snickers, und ihr beiden macht solange das mit der Gefühlsduselei. Wenn ich zurück bin, will ich davon nichts mehr
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