Fern wie Sommerwind
und zünden sich eine Zigarette an. Sie sprechen nicht miteinander, schauen zu Boden. Ich habe den Eindruck, dass sie mitgenommen sind. Auf jeden Fall sehen sie traurig aus. Wahrscheinlich ist das so auf dem Dorf, wo jeder jeden kennt.
Als sie schließlich wegfahren, fange ich an, das Wohnzimmer aufzuräumen. Tassen wegzustellen, die Decke zusammenzufalten, die Blumen zu gießen.
»Meinst du nicht, das ist jetzt überflüssig?«, fragt Martin vorsichtig.
Ich halte mit der Gießkanne in der Hand inne. »Ich kann das einfach nicht glauben.«
»Komm her«, seufzt er und streckt mir seinen Arm entgegen. Ich stelle die Kanne auf den Tisch und gehe rüber zu Martin, setze mich neben ihn auf den Boden und lehne mich an den Türrahmen. Auf dem Sofa können wir nicht sitzen.
»Ich kann doch unmöglich weiter hier wohnen«, überlege ich. »Plötzlich ist alles anders.«
»Irmi hätte bestimmt gewollt, dass du hier bleibst«, sagt Martin und streicht mir durchs Haar.
»Woher weißt du, was Irmi gewollt hätte? Du kanntest sie doch gar nicht.« Ich bereue sofort, dass ich Martin so anfahre. Er kann nichts dafür. »Tut mir leid.«
»Ich kann heute hier schlafen, wenn du magst«, schlägt er vor.
»Geht das?« Alleine in diesem Haus zu schlafen, würde mich völlig fertigmachen.
»Ich sage nur schnell zu Hause Bescheid.« Er geht mit seinem Handy auf die Veranda.
Hätte ich nicht sehen müssen, dass es mit Irmi zu Ende geht? Ich hatte doch bemerkt, dass Irmis Verfassung in letzter Zeit nicht die beste war. Sie war ständig müde, schlief viel und hatte trotzdem diese Augenringe gehabt. Ich hätte es in jedem Fall sehen müssen. Ich hätte mit ihr zum Arzt gehen sollen oder wenigstens einen ins Haus holen. Ich hätte dafür sorgen müssen, dass Irmi genug trinkt. Hätte, hätte, hätte.
Im Haus ist es so still. Ich höre die Uhr ticken und in der Küche das Wasser in die Spüle tropfen. Draußen spricht Martin leise mit seiner Mutter. Seine Stimme ist ruhig und unaufgeregt. Ich kann von Glück sagen, dass er hier bei mir ist.
Eine Stunde später stehen wir in der Kirche. Es ist kühl und die angezündeten Kerzen flackern im Zugwind. Durch die bunten Fenster dringt kaum Licht. Die Stille hat etwas Feierliches. Ich traue mich kaum, mich zu rühren, und lasse den Blick schweifen. Die ganzen Kreuze und Marienstatuen mit dem Jesuskind wirken befremdlich. Ich kenne das nur aus Filmen. Im echten Leben war ich bisher noch nie in einer Kirche gewesen. Meine Familie hat es nicht so mit Jesus.
Der Pfarrer ist ein älterer Mann um die fünfzig mit einem netten Lächeln und einem fast kahlen Kopf. Er strahlt eine gewisse Ruhe aus und nimmt mir und Martin damit die Nervosität. Er setzt sich mit uns auf eine der harten Kirchenbänke und lächelt uns freundlich an. Wir erzählen von Irmi. Dass sie tot ist und dass wir nicht wissen, ob sie Verwandte hatte und wie man das alles jetzt regeln soll. Während ich das alles erkläre, etwas abgehackt und durcheinander, wird mir erst so richtig klar, was da wirklich passiert ist. Der Pfarrer legt seine Hand auf meine und drückt mit seinen Fingern leicht dagegen. Es ist eine warme, raue Hand, und ich muss meinen ersten Impuls, die eigene Hand wegzuziehen, unterdrücken.
»Ich kannte Irmgard gut. In letzter Zeit konnte sie nicht mehr so oft zu uns kommen, aber früher war sie sehr engagiert in der Gemeinde gewesen, hatte im Chor gesungen und den Stricknachmittag geleitet. Sie war eine gute Frau, ein guter Mensch. Sie ist jetzt bei Gott.«
Bei Gott. Schwer vorzustellen. Eben wurde sie doch auf einer Liege abtransportiert.
»Ich werde ein Gebet für sie sprechen«, sagt der Pfarrer und legt seine Hände ineinander. Martin und ich tun es ihm gleich, und zumindest ich fühle mich komisch dabei. »Christus nehme dich auf, der dich berufen hat, und in das Himmelreich sollen Engel dich geleiten.«
Der Pfarrer steht auf und zündet eine Kerze an. Dann geht er fast lautlos durch eine Seitentür hinaus und lässt Martin und mich alleine.
Wir bleiben auf der Bank sitzen und lauschen auf die Stille. Meine Gedanken beruhigen sich, bis mein Kopf sich leer anfühlt. Dieser Ort hier ist unwirklich. Kühl und still. Er hat nichts zu tun mit der Welt da draußen, nichts mit den Menschen, die dort in der Sonne braten, nichts mit den bunten Schwimmringen und dem Geruch von Sonnenmilch.
Nie mehr wird Irmi über den Strand laufen.
Nicht mal die Marmelade wird sie mehr essen, die sie so mühevoll mit mir
Weitere Kostenlose Bücher