Ferne Tochter
Espresso.
Gleich zehn vor fünf. Ständig schaue ich auf die Uhr. Für andere sieht es vermutlich so aus, als ob ich auf jemanden warte.
»Kann ich Ihnen noch etwas bringen?« Die Kellnerin lächelt.
»Nein, danke. Ich möchte gern zahlen.«
Es hat wieder begonnen zu regnen. Wenn ich heute nicht den Mut habe, warum sollte ich ihn morgen haben?
Ich hinterlasse ein großzügiges Trinkgeld.
[home]
6.
B ussestraße 29 a – meine Kindheitsadresse lässt sich mühelos ins Navigationsgerät programmieren. Nein, das geht mir zu schnell, ich werde in einer Nachbarstraße parken und das letzte Stück zu Fuß laufen.
Ich brauche nicht lange, um mich an die Namen zu erinnern: Krochmannstraße, Timmermannstraße, Rehmstraße. Claudia wohnte in der Himmelstraße. Sie wohnt sicher längst woanders, dennoch werde ich die Himmelstraße meiden.
Ich fädele mich in den Verkehr ein. Hamburger Rushhour, kein Vergleich mit der römischen. Hier und da erkenne ich ein Gebäude, eine Kreuzung wieder. Das rote Stadtteilschild
Winterhude
hätte ich fast übersehen. Mein Herz klopft. Jetzt ist es nicht mehr weit.
In der Rehmstraße finde ich einen Parkplatz. In einem dieser Häuser war mein Kindergarten. Wie hoch die Bäume sind. Ich steige aus, schaue mich um, gehe langsam in Richtung Bussestraße. Restaurierte Stuckfassaden in hellen Farben, neue Fenster, stabile Balkone. Mir kommt es so vor, als würde eine Grauschicht von meinen Erinnerungsbildern gezogen. Nur das Kopfsteinpflaster ist unverändert.
Vor zwanzig Jahren muss hier auch schon vieles renoviert gewesen sein, aber die Bilder habe ich gelöscht. Ich sehe nur meine Kindheitsstraße vor mir: den bröckelnden Putz an den mehrstöckigen Wohnhäusern und die kleinen, alten Doppelhäuser, die vom Abriss bedroht waren. Opa hatte immer Angst, er könnte seine Tischlerwerkstatt im Hinterhof unserer Haushälfte verlieren.
Das Haus ist gerettet, verkündet Vater stolz. Wieso?, will Opa wissen. Wir haben es gekauft. Opa starrt ihn an. Habt ihr im Lotto gewonnen? Ich habe eine Hypothek aufgenommen. Was ist eine Hypothek?, frage ich. Dein Papa hat sich Geld geliehen, antwortet Opa, völlig verrückt, wie soll er das je zurückzahlen? Na, hör mal, schimpft Vater, ich bin Beamter, Oberstudienrat, das werde ich schon schaffen. Religion und Latein, Opa schüttelt den Kopf, ich fass es nicht. Na ja, ohne das Erbe meiner Eltern wär das nichts geworden, sagt Mutter. Aha! Opas Augen blitzen. Da kommen wir der Sache schon näher. Welcher Sache?, rufe ich. Nun red doch nicht immer dazwischen, schimpft Vater. Freust du dich denn gar nicht?, fragt Mutter. Opa runzelt die Stirn. Erst mal abwarten. Seid ihr jetzt meine Vermieter? Vater nickt. Wir dachten, du zahlst das, was du bisher auch gezahlt hast. An meinen eigenen Sohn? So weit kommt es noch.
Ich bleibe stehen, schaue nach rechts. Da ist es. Hellgelb, mit weißen Sprossenfenstern und Stuckverzierungen im Giebel. Rosen ranken bis in den ersten Stock.
Ich überquere die Straße und trete an den Zaun. Der Garten ist zugewuchert. Leere Chipstüten und Coladosen liegen im hohen Gras. Der Zugang zur Eingangstür an der Seite des Hauses ist durch ein Tor versperrt.
»Kann ich Ihnen helfen?«
Ich drehe mich um. Vor mir steht eine junge Frau mit einem Baby auf dem Arm. Das kleine Mädchen neben ihr tritt ungeduldig von einem Fuß auf den anderen.
»Danke, ich …«
»Wir wohnen in der anderen Doppelhaushälfte«, erklärt die junge Frau.
»Ich habe heute einen Hamster bekommen!«, ruft das Mädchen.
»Wie schön«, sage ich.
»Wir hoffen seit Monaten, dass hier mal jemand nach dem Rechten sieht.«
»Was ist denn passiert?«, frage ich.
Die junge Frau wird auf einmal misstrauisch. »Ich weiß nicht, ob ich mit Ihnen darüber reden kann. Ich kenne Sie nicht.«
»Mein Name ist Judith Velotti.«
»Sind Sie von der Presse?«
»Nein.«
»Ich will meinen Hamster aus dem Auto holen«, ruft das Mädchen.
»Gleich.«
In dem Moment fängt das Baby an zu weinen.
»Ich bin in diesem Haus aufgewachsen.«
»Wirklich?« Die junge Frau sieht mich erschrocken an.
»Kennst du Frau Wolf?«, fragt das Mädchen.
Ich nicke.
»Ist sie deine Mama?«
»Ja.«
»Ein Wagen hat sie abgeholt. Mit Blaulicht und Sirene.«
In meiner Kehle brennt es.
»Irgendwann Ende April muss es gewesen sein«, sagt die junge Frau. »Wir wussten nicht, an wen wir uns wenden sollten.«
»Wo ist Herr Wolf?«, frage ich leise.
»Den kennen wir nicht«, ruft
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