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Ferne Tochter

Ferne Tochter

Titel: Ferne Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate Ahrens
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Strähnen übrig, die am Hinterkopf in einem winzigen Knoten zusammengehalten werden. Aber ihre blauen Augen leuchten wie früher.
    »Judith …« Sie streckt mir ihre Hände entgegen.
    Sie fühlen sich an wie ein Beutel kleiner Knochen. Ich habe Angst, ihr weh zu tun.
    »Wir setzen uns ins Wohnzimmer.«
    Ich folge ihr durch den Flur. Als Kind war ich nie in ihrer Wohnung. Habe nicht geahnt, dass sie so viele Bücher, so viele Bilder besitzt. Moderne Kunst. Die Möbel sind alt, vielleicht von ihren Eltern oder Großeltern. Eine grüne Plüschgarnitur, ein dunkler Schrank mit Schnitzereien an den Türen und ein dazu passender Schreibtisch, auf dem ein Globus steht. Hat sie hier mein erstes Zeugnis geschrieben?
Judith ist eine freundliche Schülerin, die gut mit allen auskommt.
    Frau Steffen deutet auf das Sofa und sinkt in einen Sessel. Ich setze mich, sehe ihr zu, wie sie langsam einen Teewagen zu sich heranzieht und aus einer Karaffe Wasser in zwei Gläser einschenkt. Ich will ihr helfen, doch sie winkt ab.
    »Das schaffe ich noch. Bitte.«
    Ich greife nach dem Glas.
    »Wo waren Sie all die Jahre?«
    »In Rom.«
    »Ja … Das hat Ihre Mutter immer vermutet.«
    Sie trinkt einen Schluck, tupft sich mit einem Taschentuch die Mundwinkel ab.
    »Und warum sind Sie jetzt zurückgekehrt?«
    Ich erzähle ihr von Claudias Anruf und von meinen Versuchen, über die Nachbarn etwas Näheres herauszufinden.
    »Ihre Mutter hatte im April einen schweren Schlaganfall«, sagt Frau Steffen, ohne mich aus den Augen zu lassen. »Sie liegt in einem Pflegeheim in der Nähe vom Braamkamp.«
    »Ist sie … gelähmt?«
    »Ja. Ich schaffe es leider nicht mehr, sie zu besuchen, aber eine der jüngeren Kolleginnen geht manchmal zu ihr.«
    »Ein Herr Wolf war bei den Nachbarn unbekannt. Ich vermute, er ist schon lange tot …«
    Sie nickt. »Ihr Vater hatte einen Herzinfarkt. Das ist sicher fünf Jahre her.«
    Mir wird schwindelig. Nur einen Moment lang. Nie wieder werde ich mir von ihm sagen lassen müssen, wie enttäuscht er von mir sei.
    »Ihre Mutter hat damals sehr gelitten.«
    Der Vorwurf ist nicht zu überhören.
    Das Gespräch gerät ins Stocken. Ich schaue auf den Globus, wünschte, ich wäre in Rom.
    »Ich sehe, Sie sind verheiratet«, sagt Frau Steffen schließlich und schenkt uns Wasser nach. »Haben Sie Kinder?«
    Ich zucke zusammen.
    »Ich meine … mit Ihrem Mann?«
    »Nein.«
    »Das tut mir leid.«
    Eine bleierne Schwere hängt über uns. Ich sollte aufstehen und gehen.
    »Sind Sie berufstätig?«
    Ich nicke und erzähle ihr von meinem Beruf. Das interessiert sie. Die schwierigen Themen liegen hinter uns, nun wird geplaudert.
    Um halb neun verabschiede ich mich.
    »Grüßen Sie Ihre Mutter.«
    »Telefonieren Sie manchmal mit ihr?«
    »Nein …« Frau Steffen legt mir ihre Hand auf den Arm. »Sie kann nicht mehr sprechen.«
    Ich taumele.
    »Gut, dass Sie zurückgekommen sind.«
    Wie in Trance gehe ich die Treppe hinunter.
    Auf der Straße stoße ich mit zwei lachenden Frauen zusammen.
    »Können Sie nicht aufpassen?«, ruft die eine.
    Ich renne, bis zur Rehmstraße, bis zum Auto. Ich steige ein, schlage die Tür zu, breche in Tränen aus.

[home]
    7.
    I ch sitze in meinem Hotelzimmer und suche im Internet nach Pflegeheimen in der Nähe vom Braamkamp. Es gibt nur eins. In dem Haus werde ich Mutter morgen finden, durchfährt es mich.
    Eine seltsame Ruhe breitet sich in mir aus. Vielleicht will sie mich nicht sehen, dann reise ich gleich wieder ab. Oder sie will, dass ich mich um das Haus kümmere. Es vermiete, verkaufe. Dafür brauche ich länger als eine Woche.
    Um kurz nach zehn ruft Francesco an. Er ist besorgt, weil er seit heute Nachmittag nichts von mir gehört hat.
    Ich berichte ihm, was ich in den letzten Stunden erreicht habe.
    »Das klingt doch sehr gut.«
    »Noch bin ich meiner Mutter nicht begegnet.«
    »Hauptsache, du weißt, wo sie ist. Alles Weitere wird sich finden.« Er räuspert sich. »Und … was ist mit deinem Vater?«
    »Tot.«
    »Oh, Judith, ich hatte so gehofft …«
    »Ich nicht«, unterbreche ich ihn.
    »Aber …«
    »Lass uns jetzt nicht darüber reden.«
    »Ich verstehe dich nicht.«
    »Ich weiß … Was gibt’s Neues aus der Kanzlei? Konntet ihr den Konflikt lösen?«
    »Da hat es kaum Fortschritte gegeben.«
    Wir schweigen.
    »Hast du was gegessen?«
    »Ja, ein Sandwich.«
    »Ich bin sicher, deine Mutter wird erleichtert sein, dich zu sehen.«
    »Warten wir’s ab.«
     
    Ich stehe auf dem

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