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Ferne Tochter

Ferne Tochter

Titel: Ferne Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate Ahrens
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Schulhof und sehe mich als Kind, mit meiner Schultüte. Mutter hält mich fest an der Leine. Um uns herum lauter Kinder mit Schultüten. Manche zeigen mit Fingern auf mich. Keins läuft an der Leine. In Zweierreihen aufstellen!, ruft Mutter. Zwei Mädchen fassen sich an den Händen. Mutter redet und lacht mit ihnen, mit mir redet und lacht sie nicht. Ich will nicht in Mutters Schule gehen. Will nicht die Tochter der Lehrerin sein. Alle finden eine Hand, nur ich finde keine. Beeil dich, zischt Mutter und zieht an der Leine. Ich laufe und stolpere und lasse die Schultüte fallen. Kannst du nicht aufpassen? Ich bücke mich und hebe die Schultüte auf. Sie hat eine Delle. Mach mir hier keinen Ärger, verstanden? Das Kind dreht sich zu mir um. Ich erschrecke. Das bin ich nicht, das ist meine Tochter.
    Ich wache auf. Mir ist heiß. Es ist dunkel. Francesco? Meine Hand greift ins Leere. Ich taste nach dem Lichtschalter. Hamburg. Zwanzig vor drei.
    Seit Jahren habe ich nicht an meinen ersten Schultag gedacht. Mutter im beigen Kostüm, mit Pumps, Perlenohrringen und blondierten Locken. Sie sah viel älter aus als einunddreißig. Ihre Kolleginnen in Jeans, T-Shirts und langen, bunten Röcken fürchteten ihren kritischen Blick und ihre scharfe Zunge. Sie war mit der Rektorin befreundet, schrieb für sie die Gutachten, harte Texte, die manche Laufbahn beendeten, bevor sie richtig begonnen hatte. Man muss den Standard heben, lautete einer ihrer Lieblingssätze. Frau Steffen war meine Rettung. Alle anderen ließen mich fühlen, was sie von Mutter hielten.
    Ich wälze mich hin und her. Schlafen, ich muss schlafen, sonst werde ich den Tag morgen nicht überstehen.
    Als ich das letzte Mal auf den Wecker schaue, wird es schon hell.
     
    Vom Hotel aus brauche ich nur zehn Minuten bis zum Pflegeheim. Ein unscheinbarer Backsteinbau aus den fünfziger Jahren. Balkone, gepflegter Garten, ein rotes Ziegeldach. Es könnte ein normales Wohnhaus sein, gelegen in einer ruhigen Seitenstraße. Ruhe war Mutter immer wichtig.
    Ich parke. Was soll ich dem Pflegepersonal sagen? Ich bin die Tochter von Frau Wolf. Tut mir leid, dass ich erst jetzt komme, aber ich lebe im Ausland. Nein. Es gibt Kinder, die im Ausland leben und ihre Mütter jeden Tag anrufen. Ich habe erst gestern erfahren, was mit meiner Mutter passiert ist; wir hatten zwanzig Jahre lang keinen Kontakt. Muss ich das der erstbesten Pflegerin erzählen? Nein, ich werde nur meinen Namen nennen und fragen, ob ich meine Mutter sehen kann. Wieso fragen? Ich werde sagen, ich möchte meine Mutter besuchen. Dieses Recht kann mir niemand verwehren. Oder doch? Werden sie erst mit ihr sprechen, um zu hören, ob sie mich sehen will? Ich mache mich auf alles gefasst.
    Francesco schickt mir eine SMS .
Viel Glück! Ich liebe dich. F.
    Eine alte Frau überquert langsam die Straße; sie schiebt einen Rollator vor sich her. Mir ist plötzlich kalt.
    Ich steige aus, schließe den Wagen ab, würde gern ein Stück laufen, nur einmal um den Block. Die Sonne scheint, nachher soll es regnen, niemand erwartet mich.
    Nichts als Ausflüchte.
    Die alte Frau steht vor der Haustür und versucht mit zittrigen Händen, ihren Schlüssel ins Schloss zu stecken. Sie ist sicher über neunzig. Dreißig Jahre älter als Mutter. Und leben im selben Haus.
    »Kann ich Ihnen helfen?«
    Sie sieht mich argwöhnisch an. »Wer sind Sie? Ich habe Sie noch nie gesehen.«
    »Mein Name ist Judith Velotti.«
    »Kenne ich nicht.«
    Sie kämpft weiter mit dem Schlüssel. In ihrem rechten Mundwinkel hängt ein Speichelfaden. Ich versuche, nicht hinzusehen.
    »Vielleicht sollten wir klingeln.«
    »Nein, das sollten wir nicht!«
    Ihre Hände zittern immer stärker. Eine absurde Situation.
    In dem Augenblick wird die Tür geöffnet und eine Pflegerin steht vor uns.
    »Da sind Sie ja. War’s schön?«
    »Geht so.«
    Die Pflegerin hakt die alte Frau unter. Im Gehen dreht sie sich kurz um und nickt mir zu. »Ich komme gleich wieder.«
    Ich nicke zurück. Lassen Sie sich Zeit, würde ich ihr am liebsten sagen.
    Überall sehe ich alte Menschen am Stock, mit Rollator, im Rollstuhl. Zum Glück riecht es nicht nach Urin.
    »Schick sehen Sie aus!«, ruft mir ein gebeugter Mann mit weißem Bart zu. »Sind Sie die Neue?«
    Ich schüttele den Kopf.
    »Schade!« Er lacht und geht weiter.
    Bin ich zu auffällig gekleidet? Beige Ballerinas, beige Jeans, braune Strickjacke, weißes T-Shirt, braun-beige gemusterter Seidenschal. Kein Schmuck, außer meinem

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