Fesseln der Erinnerung
in diesem Raum.
Die Erinnerung an die Worte von Detective Max Shannon rissen sie vor dem verführerischen Abgrund zurück. Aus irgendeinem Grund war die Vorstellung, er könnte sie als böse bezeichnen … keine Option. Er hatte sie anders als andere Männer angesehen, hatte die Narben bemerkt, sie aber offensichtlich als selbstverständlich zu ihrem Körper gehörig betrachtet. Dieses außergewöhnliche Verhalten hatte sie dazu veranlasst, ihm in die Augen zu sehen, um herauszufinden, was er dachte.
Das hatte sich als unmöglich erwiesen. Aber sie wusste, was Max von ihr wollte.
Nur Bonner selbst weiß, wo er die Leichen vergraben hat – wir müssen es aus ihm herausbekommen.
Sophia schloss die Tür zu ihren dunklen Gedanken, öffnete ihr geistiges Auge und erforschte mit ihren telepathischen Sinnen die verschlungenen Wege im Kopf von Gerard Bonner. Im Lauf ihres Berufslebens war sie vielen verrückten Gehirnen begegnet, aber dieses hier war einzigartig. Die meisten, die solche Verbrechen begingen, waren auf irgendeine Art geistig krank. Doch Sophia war geübt darin, mit zusammenhanglosen Erinnerungsfetzen umzugehen.
Bonners Gehirn hingegen war aufgeräumt, jede Erinnerung fein säuberlich abgelegt. Dennoch ergab alles keinen Sinn, da kalte, psychopathische Vorstellungen und Wünsche die Gedanken ordneten. Bonner sah die Welt, wie er es wollte, und so verzerrt, dass es nicht mehr möglich war, hinter dem Netz von Lügen die Wahrheit zu erkennen.
Sophia beendete ihren Rundgang und zentrierte sich, bevor sie auf der körperlichen Ebene die Augen öffnete und in die leuchtend blauen Augen des Mannes sah, den die Medien so faszinierend fanden. In den Nachrichten wurde er als gut aussehend, intelligent und anziehend geschildert. Tatsächlich hatte er einen Abschluss an einer renommierten Hochschule gemacht und stammte aus einer der ersten Familien der Menschen in Boston – noch immer konnten viele kaum glauben, dass er der Schlächter der Park Avenue sein sollte. Diesen Namen hatte die Öffentlichkeit dem Mörder von Carissa White gegeben, deren Leiche auf einem der berühmten „grünen“ Mittelstreifen der Straße gefunden worden war.
Im Frühling wogte dort ein Meer von Tulpen und Osterglocken, doch es war Winter und Carissa lag in einer weißen Märchenlandschaft. Ihr Blut leuchtete dunkelrot, und auf den schneebedeckten Bäumen glitzerten Lichterketten. Sie war das einzige der Opfer, das man bislang gefunden hatte, der öffentliche Fundort der Leiche hatte ihren Mörder auf der Stelle zum Medienstar gemacht. Er wäre auch beinahe gefasst worden – nur der Umstand, dass der Zeuge, der ihn hatte wegrennen sehen, zu weit entfernt gewesen war, um der Polizei eine genaue Personenbeschreibung geben zu können, hatte die Bestie gerettet.
„Danach bin ich vorsichtiger geworden“, sagte Bonner, und auf seinem Gesicht erschien jene Andeutung eines Lächelns, das Leute in dem Glauben wiegen konnte, in ein Geheimnis eingeweiht zu werden. „Beim ersten Mal ist jeder ein wenig unbeholfen.“
Sophia ließ sich nicht anmerken, dass er gerade in „ihren Gedanken gelesen hatte“, das hatte sie nicht anders erwartet. Den Akten nach war Gerard Bonner ein Meister der Manipulation, konnte anhand der Körpersprache und kleinster Veränderungen der Mimik fast schon genial Vorhersagen über sein Gegenüber treffen. Selbst Silentium schien keinen Schutz vor seinen Fähigkeiten zu bieten – Sophia hatte die Aufzeichnungen der Gerichtsverhandlung gesehen, Bonner war dasselbe auch bei anderen Medialen gelungen.
„Darum sind wir ja hier, Mr Bonner“, sagte sie mit einer Ruhe, die bei jeder Befragung kälter zu werden schien – dieser Überlebensmechanismus würde bald die letzten Reste ihrer Seele zu Eis erstarren lassen. „Sie haben sich bereit erklärt, im Gegenzug für bestimmte Privilegien im Gefängnis die Verstecke Ihrer anderen Opfer anzugeben.“ Bonner war dazu verurteilt worden, den Rest seines Lebens im D2 zu verbringen, einem abgelegenen Hochsicherheitsgefängnis in den Bergen von Wyoming. Diese Spezialeinrichtung beherbergte die Straftäter des Landes, die so gefährlich waren, dass eine Unterbringung im normalen Strafvollzug zu risikoreich war.
„Ich mag Ihre Augen“, sagte Bonner, sein Lächeln vertiefte sich, als er sie mit einem Blick ansah, den die Medien als „mörderisch sinnlich“ bezeichneten. „Sie erinnern mich an meine zarten Blumen.“
Sophia ließ ihn reden, alles, was er sagte, war
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