Fesseln der Erinnerung
schwarzem Haar, das mit einem Hauch von Silber durchzogen war, in die Wartehalle kam. „Tut mir leid wegen der Verspätung, Ms Russo. Ihr Hubschrauber ist schon vor fünf Minuten gelandet, aber ich konnte nicht sofort jemanden entbehren, der sie hinbringt – ein paar Gefangene haben im Hof eine Rauferei angefangen.“
Sophia stand auf, die Aktentasche in der Hand. „Schon in Ordnung, Warden.“ Das Andere in ihr zog sich zurück, die Aufgabe war beendet. „Ich kann den Zeitplan immer noch einhalten.“
Warden Odess begleitete sie durch die erste Sicherheitsschranke. „Das ist jetzt Ihr dritter Besuch in diesem Monat, habe ich recht?“
„Ja.“
„Kommen Sie voran mit dem neuen Fall?“
„Ja.“ Sie passierten die zweite Schranke und näherten sich dem letzten Tor. „Die Ankläger glauben fest an einen Erfolg.“
„Mit Ihnen haben sie ja auch ein Ass im Ärmel. Muss schwer sein, den Unschuldigen zu spielen, wenn Sie in den Erinnerungen kramen.“
„Stimmt“, sagte Sophia. „Aber es wird bei diesen Fällen häufig auf Wahnsinn plädiert oder verminderte Zurechnungsfähigkeit.“
„Kann ich mir vorstellen. Sie können doch in die Köpfe hineinsehen, nicht wahr? Wissen Sie denn immer, was die so denken?“
„Nur wenn es sich auf Äußerungen oder Taten bezieht“, sagte Sophia. „Bei jedem Hauch von Zweideutigkeit ist es ein weites Feld.“
„Und die Verteidigung argumentiert natürlich, dass alles anders ist, als es erscheint.“ Der Beamte schnaubte und trat hinaus in das blendende Licht eines späten Wintertages. Sophia blinzelte. Die Sonne schien viel zu hell, schnitt wie Glassplitter in ihre Augen.
Odess sah sie an. „Ist wohl Zeit, sich wieder mal hineinzubegeben.“
Die meisten Leute wussten nicht, dass J-Mediale nur einen Monat arbeiteten und sich dann in das nächste Rehabilitationszentrum begaben, um ihre Konditionierung überprüfen zu lassen. Aber Odess war schon über zehn Jahre dabei. „Woher wissen Sie das immer?“, fragte sie, denn sie hatten schon öfter zusammengearbeitet.
„Ihre Frage ist schon die Antwort.“
Sie legte den Kopf leicht schräg und sah ihn fragend an.
„Sie verhalten sich immer menschlicher“, sagte er, und in seinen dunklen Augen stand eine Sorge, die sie nie verstehen würde. „Am Anfang, wenn Sie gerade von da zurückkommen, geben Sie nur kurze, knappe Antworten. Und nun … haben wir uns richtig unterhalten.“
„Genau beobachtet“, sagte sie, auch das Neigen des Kopfes war ein Zeichen für Desintegration. „Vielleicht können wir die Unterhaltung dann in einem Monat fortsetzen.“ So lange würde es dauern, bis die Konditionierung sich wieder abzuschwächen begann.
„Bis dann also.“
Sophia ging ohne Eile zu dem wartenden Hubschrauber. Sie traf rechtzeitig in Manhattan ein, genau in dem Moment, als der blutende Mann in seiner Zelle entdeckt wurde.
Max hatte die Nacht damit verbracht, die Akten im Fall Bonner noch einmal durchzugehen, es bestand immerhin eine verschwindend kleine Chance, dass der Mistkerl irgendwann doch den Fundort einer Leiche preisgegeben hatte. Allerdings war es auch so, dass Max jedes Detail der Aussagen des Schlächters auswendig kannte und nie mehr aus dem Kopf bekommen würde, er wollte nur sicher sein können, dass er sich wirklich auf seine Erinnerungen verlassen konnte. Die vielen Toten, ihre Schmerzen und die Arroganz des Mannes, der ihnen das Leben genommen hatte, hatten ihn nicht gerade in die beste Stimmung für das gebracht, was nur ein Medialenscherz sein konnte.
„Commander“, sagte er zu dem Medialen mit den aristokratischen Gesichtszügen, der die New Yorker Polizei leitete, „kann ich offen reden – ?“
„Das tun Sie doch fast immer, Detective Shannon.“
Bei den meisten Menschen und Gestaltwandlern hätte Max hinter dieser Aussage so etwas wie trockenen Humor vermutet. Aber Commander Brecht war ein Medialer. Ein Vergewaltigungsopfer würde er mit demselben kühlen Blick messen wie einen vorbeirasenden Amokschützen.
„Dann“, sagte Max und massierte sich mit zwei Fingern die Nasenwurzel, „werden Sie sicher auch verstehen, warum ich mich frage, was um alles in der Welt Sie dazu bewogen hat, mich auf diesen Fall anzusetzen. Die Medialen hassen mich.“
„Hass ist ein starkes Gefühl“, sagte Commander Brecht, der neben einem altmodischen Aktenschrank stand, der auf welchem Wege auch immer allen Modernisierungsversuchen getrotzt hatte. „Sie sind eher unbequem.“
Max spürte, wie
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