Fesseln der Sehnsucht
Wiese. Das Hemd war ihr hoffnungslos zu groß. Sie krempelte die Ärmel mehrfach um, bis ihre Hände zum Vorschein kamen. Der Saum reichte ihr knapp unter die Knie, als sie aufstand und schmerzhaft das Gesicht verzog. Ihre Knochen fühlten sich immer noch zerschlagen an. Rasch streifte sie die Socken über, in die ihre Füße zweimal gepasst hätten. Dann riskierte sie einen Blick und sah, dass Heath seinen blonden Kopf zur Seite gedreht hatte, grade weit genug, um sie aus dem Augenwinkel zu beobachten. Ertappt schaute er wieder zur Wand und hob reumütig die Schultern. Sie hätte von seinem heimlichen Blick gekränkt und empört sein müssen, auch Angst und Argwohn wären angebracht gewesen. Seltsamerweise empfand sie nichts von alledem.
»Mr. Rayne«, wies sie ihn dennoch streng zurecht. »So benimmt sich kein Gentleman.«
»Miss Caldwell«, antwortete er über die Schulter. »Vor langer Zeit hatte ich gute Aussichten, ein Gentleman zu werden, da ich so erzogen wurde. Bedauerlicherweise sah ich mich durch die Ereignisse der vergangenen Jahre gezwungen, zu wählen zwischen … mich wie ein Gentleman zu verhalten oder am Leben zu bleiben. Der Krieg ist die beste Methode, einem Gentleman den Garaus zu machen … nur wenige haben überlebt. Im Gegensatz zu den Schurken …«
»Ach, hören Sie auf!«, rief sie in einer Mischung aus Abscheu und Verwirrung. Sie wusste nicht recht, ob sie ihm glauben sollte. »Über gewisse Dinge darf man nicht scherzen.«
»Ich stimme Ihnen zu, glaube aber, der Krieg gehört nicht dazu. Oder sind Sie der Meinung, dieser Krieg wurde zu Recht geführt? Wenn ja, unterscheiden Sie sich kaum von den meisten Leuten hier oben. Der Sieger behält den Krieg in stolzer Erinnerung und weiß gute Gründe, um Tod und Vernichtung zu rechtfertigen.«
Sie wusste nicht, was sie von ihm denken sollte. Müde folgte sie ihm den Flur entlang in ein Badezimmer, wobei sie möglichst großen Abstand zu ihm hielt. Die ovale Badewanne aus verzinktem Eisen war blank geputzt. In einer Ecke stand ein Wasserklosett wie ein stolzer Thron. Ein nach dem neuesten Stand der Technik eingerichtetes, hochmodernes Badezimmer.
»Ich würde gern ein Bad nehmen«, meinte Lucy mit einem sehnsüchtigen Blick auf die blank geputzten Messinghähne.
»Nicht solange Sie Fieber haben.«
»Das Haus ist warm und ich fühle mich …«
»Fünf Minuten im warmen Wasser und Sie wären völlig erschöpft. Ich glaube kaum, dass Sie Gefallen daran finden würden, wenn ich hereinstürme, um Sie vor dem Ertrinken in der Badewanne zu retten … obgleich mir der Gedanke verlockend …«
»Ich nehme kein Bad«, unterbrach Lucy ihm knapp und schlug ihm die Tür vor der Nase zu. Was für ein schamloser Halunke! Wie dreist, sie so anstößig zu necken – noch verwerflicher, als sie zu entkleiden. Das hatte er schließlich nur getan, um zu verhindern, dass sie sich eine Lungenentzündung holte. Aber mit diesem schamlosen Necken wollte er sie nur aus der Fassung bringen, dieser Teufel.
Nachdem sie sich erleichtert hatte, schwappte sie sich Wasser ins Gesicht und versuchte, das lange, zerzauste Haar mit den Fingern zu glätten. Sie musste Heath Recht geben – sie war völlig erschöpft. Als sie die Tür öffnete, tauchte er am anderen Ende des Flurs auf. Seine blauen Augen wanderten über ihre Gestalt, von den zierlichen Füßen in den viel zu großen Wollsocken nach oben zum Spitzenbesatz ihrer Unterhosen, die unter dem lächerlich großen Männerhemd hervor lugten.
»Bitte schauen Sie mich nicht so an«, murmelte Lucy verlegen. »Ich sehe lächerlich aus.«
»Ehe ich Sie kennen lernte, hörte ich, Sie seien das hübscheste Mädchen der Stadt. Aber ich hatte keine Ahnung, dass Sie eine der schönsten Frauen sind, der ich je begegnet bin.«
Befangen senkte sie die Augen, seine leere Schmeichelei war ihr peinlich. »Sie sind ein unverschämter Lügner.«
Daniel wäre über ihre Bemerkung zutiefst gekränkt gewesen. Heath Rayne grinste nur. »Zugegeben, manchmal nehme ich es mit der Wahrheit nicht so genau. Aber nicht bei Ihnen.« Er folgte ihr ins Schlafzimmer. Lucy spürte seine Blicke im Rücken und beschleunigte ihre Schritte.
»Ich möchte ein wenig schlafen …«
»Nicht ehe Sie etwas gegessen haben.«
»Ich habe keinen Hunger.«
»Auf dem Nachttisch liegen ein paar Bücher, mit denen Sie sich die Zeit vertreiben können, bis das Frühstück fertig ist.«
Es war sinnlos, ihm zu widersprechen. Ergeben schlüpfte Lucy ins
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