Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fest der Fliegen

Fest der Fliegen

Titel: Fest der Fliegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Heidenreich
Vom Netzwerk:
Gedächtnis. Menschen verschwanden aus seinem Kopf. Erst fielen ihm die Namen nicht mehr ein, dann wurden die Gesichter undeutlich und machten sich davon. Vor dem Einschlafen versuchte er, sie zurückzurufen. Sie tauchten kurz auf, ließen sich aber nicht halten und verschwammen in einer dunklen Ferne, von der er nicht wusste, ob sie innerhalb oder außerhalb seines Kopfes war. Angst breitete sich in seiner Brust aus. Tags lähmte sie seine Hand beim Malen. Seine Hand gehörte der Angst. Er konnte spüren, wie seine Finger die Sicherheit mit dem Kohlestift und die über Jahrzehnte eingeübte Pinselführung vergaßen, mit der er bisher der Leinwand Tiefe und Raum geben konnte. Schließlich hatte er Martina davon erzählt. »Ich verliere die Jahre, die Typen, mit denen ich zu tun hatte, denen ich auf die Spur gekommen bin, die ich nach tagelangen Verhören überführt habe, ich habe ihnen gegenübergesessen, ihnen Stunden und Stunden ins Gesicht gesehen, jetzt sind sie weg, sie hauen einfach ab, ich weiß noch, irgendwas war mit denen, aber sie heißen nicht mehr, sie sehen nicht mehr aus, sie sind niemand mehr! Und wenn das nur der Anfang ist? Mein Gehirn geht kaputt, löscht erst meine Fälle, die Arbeit von vierzig Jahren! Und dann? Was kommt danach? Wann werde ich dein Gesicht vergessen?« Sie hatte ihn beruhigt. Eine Krise. Kein Wunder nach dem, was passiert war. Dazu seine Pensionierung. Jahrelang Stress, und plötzlich nichts mehr. Die unerträglichen Anfeindungen in der Stadt. »Das gibt sich wieder. Nimm dir jetzt Zeit für deine Kunst und denk nicht an die Vergangenheit!« Sie schien nicht zu begreifen, dass auch die Kunst keine Zuflucht mehr war. Dass er eine panische Angst davor hatte, irgendwann die Akten der eigenen Fälle zu lesen wie fremde Romane. Es ging um sein Leben. Er hatte recht. Es ging tatsächlich um sein Leben. Doch anders, als er glaubte. Zu dieser Mittagsstunde an der leeren Place Gréverie in dem normannischen Städtchen Valmont ahnte er noch nicht, dass er den Tod auf die eigene Spur gesetzt hatte.
    Er konnte immer noch umkehren. Schließlich hatte er die Reise wegen der Impressionisten unternommen. Nicht als Kriminaler, dem der Kopf leer wurde, sondern als Maler, der jetzt, mit sicherer Pension, ausschließlich Künstler sein durfte. Nach Giverny war er natürlich wegen Claude Monet gekommen. Doch warum war er weitergefahren, bis La Manche, an die Felsen des Pays de Caux, wo der Atlantik in den Ärmelkanal überging? In Fécamp hatte er nicht die vom Hotelportier gepriesene Église abbatiale de la Sainte-Trinité aufgesucht, sondern die Fischhalle am Quai Bérigny, und war mit der ausgestreckten Hand über die Haut eines großen, dunkelgrauen Rochens gefahren, der in einem der vorderen Kästen auf dem Eis lag. Warum hatte er das getan? Früher wäre ihm nicht eingefallen, ausliegende Fische anzufassen. Die scharfen Dornen der Rochenhaut hatten ihm die Fingerkuppen aufgeritzt und er hatte erschrocken den Laden verlassen, um in der Apotheke zwei Häuser weiter Pflaster zu kaufen. War es Zufall, dass er nachmittags auf der Straßenkarte entdeckt hatte, wie nahe Valmont war? Der Ort hinter der normannischen Küste, den die ehemalige Lehrerin Janine O’Hearn in Edinburgh erwähnt hatte. »Haben Sie nicht gelesen, Die Gefährlichen Liebschaften von Choderlos de Laclos? Der Vicomte de Valmont war ein Monster!« Sie hatte gekichert wie ein Mädchen. »Stellen Sie sich vor, Monsieur, da wohne ich nun seit meiner Kindheit!« Er war nach Valmont gefahren, bis zur Place Robert Gréverie. Jetzt hatte er das Haus Nummer sechs betreten. Die Rentnerin hatte erzählt, ihre schottischen Urgroßeltern seien vor dem Hunger zu Hause in die Haute-Normandie ausgewandert. Warum belästigte er die alte Dame? Ein Test, den er mit sich selbst machte. Was hatte sie mit seinen Ängsten zu schaffen! Wieso aber hatte er das unbestimmte Gefühl, er müsse sie warnen? Vielleicht sollte er besser das Haus verlassen, in den Wagen steigen, nach Le Havre fahren und auf der Pont de Normandie die Mündung der Seine überqueren, dann weiter nach Honfleur, auf der Spur des Malers Eugène Boudin. Wieder zögerte er. Nicht der Maler Alexander Swoboda zögerte, der das Licht der Normandie in seinen Augen sammelte. Der Kriminalhauptkommissar außer Dienst zögerte und hasste zugleich seine Unfähigkeit, sich zu entscheiden.
    Nach ein paar Schritten im Hausflur sah er rechts eine Tür, klopfte, und als niemand antwortete, öffnete

Weitere Kostenlose Bücher