Fest der Fliegen
… Swoboda wandte sich zum Gehen. Zögerte wieder. Nahm plötzlich den Geruch wahr: Ammoniak, Fäulnis und Süße. Er drehte den eiförmigen, weißen Porzellanknauf und drückte leicht gegen die Eingangstür. Sie gab nach. Aus einer offenen Zimmertür links fiel graues Licht auf den Boden im Flur. Swoboda rief nach Madame O’Hearn und besann sich auf seine französischen Sätze. Er tastete nach dem Lichtschalter. Weiter hinten lag vor der geschlossenen Tür am Ende des Korridors ein dunkles Etwas auf dem rotbraunen Linoleum. Eine schlafende Form, nur wenig gekrümmt, mit einer blaugrün glimmenden, unruhigen Schicht überzogen. Die gab, als würde der Körper leise singen, einen an-und abschwellenden Summton von sich. Als hätten alle Fliegen des sterbenden normannischen Sommers sich auf diesem halb nackten Leib versammelt und beschlossen, ihren Nachwuchs Madame O’Hearn’s Fleisch anzuvertrauen. Plötzlich wusste er, welche Farbe das Meer hatte: die tückische Dornenhaut des Rochens, an dem er sich gestern im Fischgeschäft geritzt hatte, und diese emsigen Insekten: Das Meer war in der Tiefe graugrünschwarz wie der Fisch und an seiner Oberfläche grünblau schillernd wie die Fliegenhaut der Toten. Er blieb in der Tür stehen und versuchte, flach zu atmen. In der Pathologie hatte Leybundgut ihn stets ermahnt, tief Luft zu holen, um die Übelkeit zu bekämpfen, doch er hatte sich meistens für die FFP-Maske entschieden, die den Ekel verminderte. Bei manchen Funden hatten sie sich mit der Sprühgranate beholfen, die alle Gerüche neutralisierte. Hier konnte er sich nur auf den Durchzug zwischen Fenster und Wohnungstür verlassen. An der vergilbten rechten Flurwand hing der Staubmantel von Janine O’Hearn an einem Haken. Es gab nur diesen einen Haken. Darunter standen die Straßenschuhe der Toten, hellbraun, flach und blank, parallel ausgerichtet, mit den Absätzen zur Wand. Andere Schuhe waren nicht zu sehen. Swoboda fragte sich, ob sie im Bodenfach eines Kleiderschranks schwarze Schuhe aufbewahrte, für die Kirche. Aber es war nicht seine Sache, nachzusehen. Er hatte hier überhaupt nichts zu tun. Das war Aufgabe der Polizei von Valmont oder der von Fécamp oder vielleicht der von Paris. Er, Alexander Swoboda aus Zungen an der Nelda, hatte aus guten Gründen seinen Beruf an den Nagel gehängt. Er wollte und konnte keine Leichen mehr sehen. »Nie wieder Tod«, hatte er seinem Vorgesetzten, Kriminalrat Klantzammer, gesagt. »Es reicht, der Scheißtod steht mir bis hier«, und er hatte mit der flachen rechten Hand in Höhe seiner Gurgel einen Schnitt durch die Luft gezogen. Klantzammer hatte gegrinst. »Sollte ich dich mal brauchen, werde ich dich trotzdem fragen, Scheißtod hin oder her.« Nein, hier, beim Fest, das die unendlich geduldige Lehrerin Janine O’Hearn den Fliegen bereitete, hatte er keine Aufgabe zu erfüllen. Er war nur zufällig am Tatort. Vermutlich der erste Zeuge. Er erinnerte sich, am Ortseingang, wo die Route de Therouldeville auf die Rue Jules Crochemore stieß, eine Gendarmeriestation gesehen zu haben. Landpolizisten vermutlich. Sie würden hereintrampeln und alle Spuren zerstören. Warum nahm er das an? Hatte er eine Vorstellung davon, wie die Polizei von Valmont organisiert und ausgebildet war? Keine Ahnung hatte er. Jetzt stand er in der offenen Zimmertür, dem Kleiderhaken mit dem Mantel der Toten gegenüber. Ein flüchtiger Seitenblick in den Raum: Braune Sitzgarnitur, Couchtisch, grüner Teppichboden, offenes Fenster, Himmel. Er schob sich weiter nach vorn, dicht an der linken Wand, näher zur Leiche. Wieder spürte er das Zittern in seinen Fingern. Die Fliegen schwärmten auf, mit einem wütenden Sirren ordneten sie sich zu einer lang gestreckten Wolke, die an ihm vorbeiflog, als wollten sie ihn prüfen, bevor sie zu dem nackten Rücken von Janine O’Hearn zurückkehrten und sich darauf niederließen, um ihre Vermehrung fortzusetzen. Jetzt konnte er den Kopf sehen, der wie schlafend auf der Seite lag. Und das schwarze, mit Blut und Haaren verklebte Loch, das jemand in die Schläfe geschlagen hatte. Wer immer das getan hatte, das Seelenheil von Madame O’Hearn war ihm wichtig gewesen: Die Hände der Ermordeten hielten unter dem Gewimmel der Maden einen Rosenkranz mit einem kleinen, goldenen Medaillon fest.
Er beugte sich über sie. Das Blut war nach hinten gelaufen und über den Hals, wo es in einer Nackenfalte eine schwarze Rinne bildete. Das Gesicht war frei von Blut und trug
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