Fest der Fliegen
noch so aus, wie er sie erwartet hatte: jenseits der Zeit bewahrt, schmal, geduckt, feucht. Nur hier und da hatte sich die Gegenwart mit Edelstahl und Aluminium in die Fachwerkfassaden gezwängt. Gläsern machte der Eingang einer Bank sich breit. Der Blick des Kriminalers sammelte die Kennzeichen des Ortes. Ein kleiner Fischladen neben einem Elektriker, der im schmalen Schaufenster zwei Waschmaschinen anbot. Weiter oben in der Rue Jules Crochemore ein Bäcker, Luc Pannier, Artisan , dann, am höchsten Punkt, am Rand der Place Robert Gréverie, an der Madame O’Hearn im Haus Nummer sechs wohnte, Rathaus und Kirche, das Denkmal des Unbekannten Soldaten, ein Gemischtwarenladen, dem, auf der anderen Straßenseite, ein Versicherungsbüro, eine Apotheke, eine Metzgerei und, unübersehbar groß, ein Geschäft für medizinischen Bedarf und Krankenpflege gegenüberlagen. Alte Leute, dachte Swoboda, wie ich, alt und ängstlich, gegen Schulterschmerzen gab es hier Wärmepflaster, und gegen das Stechen in den Fersen Silikoneinlagekissen für die Schuhe. Als er in die Parkbucht fuhr und den Motor abstellte, fiel ihm die Stille auf. Hier wohnen und in aller Ruhe Meeresbilder malen? Warum eigentlich nicht? Auch in Zungen an der Nelda war ihm die Stille vertraut – wenn auch eine, die ihm oft lauernd vorgekommen war, eine hinterhältige Geräuschlosigkeit. Hier, in Valmont, schien ihm die Stille aus Lebensmüdigkeit entstanden zu sein, vielleicht verursacht von dem üblichen Mangel an Jugend in solchen Gegenden. Er überquerte den Platz und suchte die Hausnummer sechs. Aus dem Gemischtwarenladen an der Ecke trat eine Frau in weißer Schürze auf die Stufen vor dem Eingang und rief ihm zu, ob er jemanden suche, ob sie ihm helfen könne. »Madame O’Hearn!«, rief er zurück. »Elle n’est pas là! Toujours en vacances! Toujours en route! Elle a une vie super!«, lachte die Frau, winkte und wandte sich zurück in ihre Épicerie.
Die weiße Schürze im Schatten der Tür. Er dachte an den Schaum des dunklen Meers in der Buch von Fécamp, als vorgestern Abend der Sturm begonnen hatte. Die Sonne war hinter einem dichten lilagrauen Wolkenband am Horizont verschwunden, hatte von dort noch Glutstrahlen hervorgeschossen und den klaren Küstenhimmel über den Kreidefelsen in Brand gesetzt.
Draußen hatten sich im Wolkenschatten die Wogen aufgestellt, aus der weiten Tiefe erhob sich eine Front von unergründlicher Dunkelheit, als wüchse meterdickes Glas vor dem Horizont, und dann schob sich die Mauer auf das Land zu, reckte sich, gewann an Geschwindigkeit und Höhe, bog sich wie unter Schmerzen, spuckte oben eine Schaumlinie aus, die das glimmende Küstenlicht aufnahm, überholte sich mit ihrer Krone, neigte sich über den Wellenfuß und stürzte auf das flach vor ihr anlaufende Wasser. Mit einem Donnern, das Swoboda unter den Füßen spürte, schlug die Woge auf, schwappte ihm entgegen, schien ihn weglecken zu wollen und verzischte, bevor sie ihn erreicht hatte. Ihr Schaum löste sich auf in knisternde Finger, die an Land liefen und zerfielen. Er hatte ein paar faustgroße, nassgraue Kiesel aufgehoben und in die anlaufende Wellenwand geworfen. Sie türmte sich neu und schluckte lautlos die Steine. Seine Schulter tat weh. Die Ladenbesitzerin war verschwunden. Vielleicht machte sie sich ja nur wichtig. Wusste angeblich alles über die Nachbarin. Janine O’Hearn sollte stets unterwegs sein? Immer in Ferien? Sie hatte ihm damals nicht den Eindruck gemacht, dass sie das Geld hatte, um ständig auf Reisen zu sein. Eine pensionierte Lehrerin für Englisch…
Der Luftzug im Flur wurde stärker. Swoboda lief weiter, die Treppe hinauf, stand vor einer Wohnungstür, neben der unter einem Klingelknopf ein handgeschriebenes Papierschild auf die Wand geklebt war. J. O’Hearn . Er drückte auf die Klingel und hörte den schrillen Ton in der Wohnung. Keine Schritte. Madame schien unterwegs zu sein, vielleicht wirklich verreist, vielleicht war sie wieder bei ihren schottischen Verwandten, auch von Iren in der Familie hatte Madame O’Hearn in Edinburgh erzählt. Er klopfte. Nichts. Er ärgerte sich, dass er nicht von Fécamp aus doch noch versucht hatte, anzurufen, bevor er hergefahren war. Vielleicht waren die Leitungen ja längst repariert. Aus Ärger drückte er den Klingelknopf noch einmal ausdauernd. Kein Laut. Offenbar hatte die Frau aus der Épicerie recht: Janine O’Hearn war irgendwo in der Welt, »immer in Urlaub, ein herrliches Leben«
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