Fest der Fliegen
Vergangenheit: Er klopfte mit den Fingerknöcheln auf die Tischplatte, um seine Anerkennung zu signalisieren. Domingo bekam von all dem nichts mit. Auch davon nicht, dass ihn seine Brüder in ein winziges Zimmer im Keller schleiften, ihn auf zwei Decken am Boden ablegten und ihn dort einschlossen.
Er hätte sich Akten seiner Fälle besorgen können, um die Fotos der Täter auf die Leinwand zu projizieren oder mittels eines Pantografen zu kopieren. Er hätte einige Verurteilte im Gefängnis besuchen und sie dort mithilfe einer simplen Camera obscura oder einer raffinierten Camera lucida porträtieren können. Er kannte all die mechanischen und optischen Techniken, die seit der Renaissance in der Malerei verwendet werden, um eine möglichst wirklichkeitsgetreue Bildgrundlage zu erhalten, und hatte keine künstlerischen Bedenken, sie anzuwenden. Von Caravaggio bis Warhol hatten sie damit gearbeitet, warum sollte er, der Feierabendkünstler Alexander Swoboda, Skrupel haben? Es war nicht der Stolz, ein Gesicht aus freier Hand ähnlich gestalten zu können. Es war sein verzweifelter Wunsch, sich auf der Leinwand zu beweisen, dass seine Erinnerung wieder Bilder hervorbrachte – nicht irgendwelche Fantasie-oder Traumbilder, sondern die realen Bilder seiner Jahre, die wirklichen Begegnungen, den Vorrat seines Lebens. Er arbeitete in diesen Nachtstunden ohne Unterbrechung, nachdem Caravaggios Amor und mehr noch sein Lautenspieler und sein Junge mit Obstkorb , deren Modell sichtlich derselbe Knabe war, ihm das Gesicht jenes Mannes in Erinnerung gerufen hatten, der ihm drei Mal in Edinburgh begegnet war: als bettelnder Mönch, als Hare-Krishna-Jünger und als Mörder. Es war halb zwei, als Martina anrief. Wie schon oft hatte
sie geahnt, dass er eine Pause machte und ein Glas Wein
trank. »Hast du was gegessen?«, fragte sie und er log. »Ja,
eine Dose Sardinen.«
»Du hast doch gar kein Brot im Haus.«
»Auch keine Sardinen.«
»Ich bring dir was, du kannst nicht die Nacht durch malen,
ohne was zu essen, ist Wein da?«
»Ja«, sagte er und trank so, dass sie es im Telefon hören
konnte. »Ein schöner kalter Entre-deux-mers von Greffier,
und er wartet auf dich.«
Sie schwieg. Dann fragte sie leise. »Und?«
»Was und?«
»Hast du was – auf die Leinwand gebracht?«
Er lachte. »Allerdings. Es ist da. Das Gesicht ist da.« Er
hörte, wie sie aufatmete.
»Kann ich es sehen?«
»Du musst nur kommen.«
Er saß auf seinem alten Ledersofa, dem Bild gegenüber,
das zwischen den beiden leeren Leinwänden stand, hielt
das Weinglas in beiden Händen und prüfte das Porträt des
Täters, dessen Name Domingo Idiocáiz ihm gut zu dem
Gesicht zu passen schien. Schon lange war er nicht mehr
so zufrieden gewesen wie in diesem Augenblick. Er zog den
Duft der frischen Ölfarbe und des Terpentins tief durch
die Nase ein und stellte sich vor, wie Martina die Galerie
am Neldaplatz, über der ihre gemeinsame Wohnung lag,
verließ, mit dem Korb im Arm, in den sie wahrscheinlich
nicht nur Brot und Käse für das Nachtmahl, sondern auch
noch ein paar Sachen fürs Frühstück gepackt hatte. Jetzt
ging sie ein kurzes Stück an der Hauptstraße entlang bis
zum Schillerplatz, dort bog sie ab in den Alten Winkel, querte die Schwedengasse und lief durch den nur einen Meter breiten Durchstich zur Burggasse hinauf. Alles menschenleer. Nun wurde sie etwas langsamer, rechts am Polizeipräsidium vorbei hinauf zur Grabengasse. Die Steigung machte ihr doch schon ein bisschen zu schaffen. Er lächelte. Zählte bis zehn. Dann hörte er unten die Pforte im Burgtor ins Schloss fallen. Er ging zur Tür, öffnete sie und schaltete das Licht im Treppenhaus ein.
Heilige Muttergottes, confiteor. Ich bitte um Deinen Rat. Unser Bruder Ranuccio Farnese hat seinem Leben ein Ende gesetzt. Du weißt, zu Dir ist er heimgekehrt, nur zu Dir wollte er, er sehnte sich danach, an Dein Herz genommen zu werden. Dennoch hat er diese Todsünde auf sich genommen. Er wusste: Kein Mensch hat Macht über den Tag seines Todes. Dennoch hat er sich diese Macht genommen und die Liebe Gottes, die das Leben ist, mit Füßen getreten. Die Schuld hat ihn übermannt. Oder weißt Du es anders? Hat der Satan seinen Sinn verwirrt? Hat die teuflische Schlange ihm befohlen, sich mit seinem Spiegelbild im Wasser zu vereinen? Ich hatte ihm die Absolution erteilt in Deinem Namen. Warum war er nicht erlöst? Was ist nur mit ihm geschehen? Hat er gebeichtet, bevor er sein Leben in Deine Hände legte? Sage
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