Fest der Fliegen
eine eigene Hütte mit einer Art Bett. Als der Patron ihm bei der Auszahlung des Wochenlohns zuflüsterte, er solle nachts zu seinem Haus kommen, auf ein Glas Wein, um über einen höheren Verdienst zu sprechen, floh Vincent Menendez noch am selben Abend und verwandelte sich wieder in Domingo Idiocáiz. Er hatte Angst vor der Rückkehr, doch es gab keine andere Heimat für ihn als die Engelslegion. Solange er sich nicht vor ihr verantwortet hatte, würde er keine Ruhe finden.
Die Pforte zum Park war verschlossen. Hier standen keine Laternen mehr. Der Vollmond hing klein und weiß leuchtend über dem Haus und ließ die glasierten Dachziegel schimmern. Domingo schwitzte. Die Hunde. Er musste mit den Hunden rechnen. Aber sie kannten ihn. Er würde mit ihnen reden. Das Moos auf den flachen Sandsteinen der Mauerkrone war nass vom Tau der Nacht. Er zog sich hoch, warf seine Brust auf die Mauer und winkelte das rechte Bein herauf. Der Webstuhl in seinem Kopf begann wieder zu arbeiten. Als Domingo auf der anderen Seite aufsprang, hörte er im dumpfen Klang des Wiesenbodens die Anklage: Schuldig. Er war schuldig. Die ganze Natur wusste, dass er schuldig war.
Aber ich komme doch, ich bin wieder da, ich habe euch nicht alleingelassen!
Er hockte sich ins nasse Gras, zog die Wermutflasche hervor, trank gierig, verschraubte die Flasche und steckte sie zurück. Sein Hosenboden wurde kalt. Er lachte leise. In seinem Kopf sagte eine Stimme: »Die Rückkehr des verlorenen Frosches.« Hinter den Fenstern zur Terrasse ging das Licht an. Es war Zeit für die Vigil. Gleich würden die Brüder zusammenkommen und beten. Domingo sah den Großabt im Refektorium neben dem langen Tisch auf und ab gehen. Jetzt kamen die Hunde zu ihm an die Mauer. Sie bellten nicht, hechelten nur, die Mäuler nah an seinem Gesicht. Er streichelte sie. Der Großabt öffnete die Glastür und trat in die Nacht hinaus. Die Hunde wandten sich von Domingo ab und liefen zum Licht. Petrus Venerandus starrte ins Dunkel. Domingo zog den Langdolch, den er in Edinburgh entwendet hatte, aus der Innentasche seines Anoraks, verbarg ihn im Gras am Fuß der Mauer und erhob sich langsam.
Zur selben Zeit stand Alexander Swoboda in seinem Atelier im Obergeschoss der Prannburg vor drei leeren Leinwänden, jede sechzig mal achtzig Zentimeter, auf drei Staffeleien nebeneinander. Er hatte die Xenonstrahler eingeschaltet und wartete. Er wartete auf die Gesichter. Das des Toten aus der Mahr hatte er auf Papier skizziert. Um den ging es ihm nicht. Er wartete auf die Vergessenen. In seiner rechten Hand hielt er den Kohlestift bereit, um die Konturen zu zeichnen, in der Linken den Lappen, um die Striche zu verwischen. Er rechnete mit allem: Dass kein Gesicht auftauchen würde, dass zwei oder drei gleichzeitig wiederkamen und sofort festgehalten werden mussten. Die Keilrahmen hatte er mit weiß grundiertem Maler-leinen bezogen, an den Rändern vernagelt, die Holzkeile in die Innenwinkel gesteckt und nachgeklopft, bis die Leinwand straff und glatt war. Er mochte es, wenn sie dem Pinsel Widerstand entgegensetzte und die Borsten auf dem hoch gespannten Stoff ein helles Scharren erzeugten. Dann hatte er den Malgrund mit der dünnen, braungrünen Terpentinlösung eingefärbt, die sich im alten Glas mit gebrauchten Pinseln aus der Mischung aller Farben ergab. Das kalkige Weiß verlor dadurch etwas von seiner bedrohlichen Leere. Er versuchte, sich seiner Fälle zu erinnern, aber er spürte Widerstand: Sein Kopf wollte ein bestimmtes Gesicht sehen, so als ob die Erscheinung aller anderen von diesem einen abhinge wie eine Geschichte von ihrem ersten Satz. Seit er Madame O’Hearn gefunden hatte, arbeitete sein Gedächtnis, wie ihm schien, unaufhörlich daran, die Bilder der Vergangenheit wieder in eine begreifliche Ordnung zu bringen. Wie Fetzen waren Sequenzen wieder aufgetaucht, Minuten von Verhören im Vernehmungsraum des Präsidiums, ein Verdächtiger mit vor der Brust zur Abwehr verschränkten Armen, noch kein Gesicht, nur eine verächtliche Grimasse, Augen, die zur Seite auswichen, ein vornüber gesenkter Kopf nach dem Geständnis. Dann ein Name, Löhning, Fred Löhning, noch keinem Fall zuzuordnen, nicht einmal einem Delikt, aber immerhin ein Name. Ruth Sallwey hatte ihm den Auftrag gegeben, die Gesichter der Vergessenen zu malen, und so paradox die Anweisung der Therapeutin auch klingen mochte: Er wusste, dass sie recht hatte. Das war der Weg. Irgendwer hatte in seinem Kopf das Leben
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