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Fest der Fliegen

Fest der Fliegen

Titel: Fest der Fliegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Heidenreich
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durcheinandergeworfen, das Oberste zuunterst gekehrt. Jetzt würde er ein Gesicht malen. Und mit diesem Bild durch die Räume gehen, wo der Erinnerungsmüll herumlag. Das Bild eines Gesichts würde das Original finden. Das Original würde seine Geschichte und seinen Namen enthüllen. Und von diesem Fall ausgehend, zurück und nach vorn, ergab sich die Kette der Zeit. So würde er sein Leben wiedergewinnen. Caravaggio! Er hatte, als er in Edinburgh dem Mörder gegenüberstand, an Caravaggio gedacht. An die Knaben Caravaggios. Er lief in den zweiten Raum, der durch ein Portal in der Mauer mit dem Atelier verbunden war, und suchte in der Bibliothek bei den Kunstbänden und Katalogen nach Abbildungen. Amsterdam. Wieso dachte er bei Caravaggio an Amsterdam? Wegen Rembrandt. Ja, die ähnliche Behandlung des Lichts bei beiden. Rijksmuseum? Nein. Es war eine Sonderausstellung! Rembrandt und Caravaggio. Er war hingefahren! Er war zwei Tage in Amsterdam gewesen. Allein? Selbstverständlich allein. War es drei Jahre her? Als er den Katalog fand und las, dass die Ausstellung tatsächlich vor drei Jahren im Rijksmuseum und im Van Gogh Museum zu sehen gewesen war, atmete er tief ein und aus. »Ihre Langzeiterinnerung wird wiederkommen, warten Sie ab«, hatte Ruth Sallwey vorausgesagt und hinzugefügt: »Und so alt, dass Ihr Kurzzeitgedächtnis versagt, sind Sie noch nicht.«
    Auf Seite hundertvierzig sah er den Knaben. Caravaggios Amor Vincit Omnia von 1602. Swoboda grinste. Wie lange muss man leben, um die Ernte der Mühen einzufahren. Von seinem zehnten bis achtzehnten Lebensjahr hatte er das humanistische Gymnasium von Zungen an der Nelda besucht: Das E.T.A.-Hoffmann-Gymnasium, dessen Schüler wegen seiner Lage auf dem Ludwigsbühel allgemein Ludwigsbühler genannt wurden. Ein bisschen Latein war also noch da. Amor siegt auf ganzer Linie … Swoboda betrachtete die Abbildung, die eine volle Katalogseite einnahm. Caravaggio hatte Amor Flügel aus dunklen Federn angeheftet, die eher zu einem Geier als zum Gott der Liebe passten, und ein Bündel Pfeile in die rechte Hand gegeben. Am Boden darunter lagen Musikinstrumente, die Werkzeuge seiner Verführung. Der kleine, sorgfältig ausgeführte Penis des Buben schien eine Vorhautverengung zu haben. Die Oberschenkel wuchtig, überproportioniert im Verhältnis zu dem zarten Oberkörper. Auch der Kopf zu groß für die schmalen Schultern. Swoboda ließ seinen Blick auf dem Gesicht ruhen. Die geröteten Backen, die dunklen Locken, die roten Lippen über dem kleinen runden Kinn. Auch wenn der Täter nicht gelächelt hatte wie Caravaggios Amor , der seine Mitte zwischen gespreizten Schenkeln geradezu auffordernd präsentiert – es war dieselbe Kindlichkeit, die doch von Kindheit nichts mehr hatte, ein junges Gesicht mit alter Erfahrung. Swoboda musste nur noch das einverständige Lächeln durch den Ausdruck ängstlich gespannter Wachsamkeit ersetzen. Die Begegnung in Edinburgh stand ihm wieder vor Augen. Der Eingang des Lädenlabyrinths der Tartan Weaving Mill & Exhibition an der Castle Hill Street, wo er den Flüchtigen gestellt hatte. Die zugleich weiblichen und männlichen Züge. In den weit offenen Augen keine Furcht, gefasst zu werden, sondern das Erschrecken über sich selbst. Auch das Gefühl kam wieder, das Swoboda damals gehabt hatte: Er hätte den jungen Mann einfach nur in die Arme nehmen und festhalten müssen, um ihn von weiteren Verbrechen abzuhalten, die sich aus dem ersten zwangsläufig ergeben würden. Das Licht fiel von rechts oben auf das Gesicht, durch das Treppenhaus zum Dachcafé. Caravaggios dramatische Beleuchtung. Wieder stand der junge Mönch vor ihm. In Zeitlupe fuhr seine rechte Hand in das offene Schaufenster mit den Schwertern. Unendlich langsam schlossen sich die Finger um den Griff eines langen Dolches. Dann das verwischte Bild der eindringenden Polizisten, und der Flüchtige wandte sich um zur Treppe, hinunter in den tiefen Bauch der Weaving Mill , aus dem die Schläge und das Rasseln der Webstühle heraufdrangen. Als der Täter sich aus dem Licht drehte, hob Swoboda den Kohlestift, trat einen Schritt auf die mittlere Leinwand zu und markierte die Augenabstände, die Proportionen von Stirn, Nase, Kinn und die Höhe des Ohransatzes. Winzige Striche, Kreuze und Punkte. Aber er sah schon das ganze Gesicht.
    Domingo kniete auf den Planken der Terrasse. Er hatte seinen Kopf in der Kutte des Großabts geborgen und ließ seinen Tränen freien Lauf. Petrus

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