Feucht
Brief. Es steht keine Adresse darauf, nur ihr Vorname: Kirsten. Mit Tinte. Auch die blau. Sie lächelt, das ist typisch, dass er ihr vorher noch einen Brief schreibt, obwohl sie sich doch gestern noch gesehen haben. Und bis zum Abendessen ist es auch nicht mehr lang. Aber er setzt sich hin und schreibt ihr einen Brief. Das ist toll. Er ist ein Glücksgriff. Allein dieser Umschlag sagt so viel über ihn aus: Er hat Niveau, Bildimg, er ist phantasievoll und einfühlsam, er ist es. Er.
Kirsten nimmt den Umschlag aus dem Briefkasten und riecht daran. Nicht parfümiert. Natürlich nicht, er weiß ja, wo Romantik aufhört und Kitsch anfängt. Sie dreht ihn um. Kein Mario auf der Rückseite. Wozu auch, sie weiß ja doch, dass er von ihm ist. Und er weiß, dass sie das weiß. Sie wissen so viel voneinander, oft denkt sie, er weiß genau, was sie denkt, und das Tolle ist: Meistens stimmt es dann tatsächlich. Sie gönnt sich einen Moment gezielte Pathetik, legt den Kopf leicht in den Nacken und denkt Silbe für Silbe Seelenverwandt. Dann schämt sie sich kurz ein bisschen, aber glücklich macht es sie doch.
Der Beutel mit dem Tiefkühlspargel, den sie auf ihrem linken Unterarm balanciert, rutscht ein Stück, sie hebt den Arm und klemmt ihn unter dem Kinn fest, die Kälte beißt sie ins Fleisch. Der Arm wird lahm. An ihm hängt eine große Tasche
mit einem Marienkäfer und goldener Schrift. Kirsten schließt schnell den Briefkasten zu und steigt die Treppen zu ihrer Wohnimg hoch. Sie schwitzt. Sie kann fühlen, dass sie Schweißränder unter den Achseln hat. Eine Haarsträhne hängt ihr ins Gesicht, und als sie die Wohnungstür mit dem Fuß aufdrückt, sieht sie, dass sie eine große Laufmasche am Schienbein hat. Egal, anderthalb Stunden hat sie noch. Zuerst wird sie sich mit Mario, also mit seinem Brief in die Wanne legen, sich vielleicht ein bisschen streicheln, um schon mal in Stimmung zu kommen. Und dann bereitet sie in aller Ruhe die Spargellasagne und die Champagnercreme vor und schminkt sich dazwischen. Er mag es sowieso nicht, wenn sie sich zu sehr zurechtmacht. Sie ist am schönsten so, wie sie ist, sagt er. Er ist der Beste. Er nimmt sie, wie sie ist, er weiß, was ihr im Bett gefällt, er unterhält sie, er liebt sie wie keiner. Das ist es, er liebt sie. Das ist großartig.
Die Wanne läuft ein. Kirsten sitzt nackt am Rand. Jetzt kann sie Marios Brief öffnen. Sie lächelt, reißt das Kuvert auf, überlegt, ob sie laut lesen soll, lässt es aber, der Brief ist ihr Geheimnis, nicht einmal die Badezimmerkacheln sollen es hören. «Liebe Kirsten», steht da, «schaffe es leider nicht, heute Abend vorbeizukommen. Danke für die schöne Nacht. Bis dann. Mario Weger.»
Kirsten dreht den Wasserhahn ab. Liest den Brief noch einmal. Verstaut den Spargel im Tiefkühlfach. Liest nochmal. Wirft das Kuvert weg. Liest. Gießt eine Topfpflanze. Liest. Dann wird ihr klar, dass sie immer noch nackt ist. Dass sie eine Gänsehaut hat. Dass ihr kalt ist. Dass sie sich etwas anziehen sollte. Nicht die roten Dessous, die auf dem Haken im Bad hängen, etwas Warmes, sie muss etwas tun, damit ihr wieder warm wird. Ihre kalten Füße sind das Wichtigste jetzt, die muss sie einpacken, dann kommt was anderes, aber erst ihre Füße. Sie zieht sich ihre Aerobicsocken an und wickelt sich in einen Bademantel. Warm werden. Sie nimmt eine Flasche Wein aus der Käfertasche, roten, gießt ihn in einen Becher, Süßstoff dazu, stellt ihn in die Mikrowelle. Setzt sich. Dann liest sie nochmal.
Schaffe es leider nicht heute Abend. Danke für die schöne Nacht. Bis dann. Es tut ihm Leid. Er schreibt leider. Es tut ihm Leid. Die ganze Sache ist ihm wahnsinnig unangenehm, er weiß ja, dass sie groß kochen wollte heute Abend, dass sie extra nach der Agentur noch in die Stadt fahren würde, um diesen ganz besonderen Wein zu bekommen. Sie trinkt einen Schluck, Zimt fehlt. Er weiß nicht, wie sie reagiert, er will sie nicht verletzen, deshalb hat er den Brief auch unten eingeworfen, anstelle ihn oben im Bett liegen zu lassen oder anzurufen. Wenn er erst im Laufe des Tages von dem Termin erfahren hat, konnte er ja gar keine Nachricht in der Wohnung hinterlassen, er hat ja keinen Haustürschlüssel. Aber das kann er ihr ja alles erzählen, wenn er kommt. Er kann nicht heute Abend. An anderen Abenden schon. Und es hat ihm gefallen mit ihr. Natürlich hat es das, sie sind ein Traumpaar.
Sie geht in der Wohnung herum, die Tasse in der Hand. Sie geht durch
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