Feuer der Götter: Roman (German Edition)
Vorsichtig kletterte Royia unter ihren Hütten entlang, suchte ein Lebenszeichen von Aja.
Auch in seinem Dorf fand er sie nicht. Überall in den Bäumen funkelten Lichter, wie drüben in der Stadt; er hörte die Stimmen zankender Jungen, Gespräche und Gelächter einiger Frauen. Nackte Kinder übten sich im Baumlaufen, rannten hinter den buschigen Schwänzen zahmer Grünkopfäffchen her und wurden von Älteren zum Essen gerufen. Eine Frau sang; von irgendwo erklangen Trommeln und Flöten. Jemand leerte einen Eimer Gemüseabfälle aus dem Eingang seiner Hütte, und zwei Stimmen stritten, was man zur Nacht essen wolle.
Er tauchte in den verlassenen Wald ein. Die Geräusche der Menschen wichen dem Lärmen der Insekten und dem Rascheln des sanften Windes in den Bäumen.
Hier hörte er, was ihn leitete: Ajas Herzschlag.
Er hielt auf den Baum der Verehrung zu. Eine Lichtung umgab den riesigen Angua, von dem es hieß, er sei der größte des bekannten Waldes. Vier gewaltige Kronen ragten übereinander in den Himmel. So mächtig war der Baum, dass er rings um sich keinen anderen duldete. Wollte man nicht den Umweg über den Boden nehmen, so war er nur über drei lange Hängebrücken zu erreichen. Man erzählte sich, die Hand des Gott-Einen habe die aus Jade gehauene Statue in die höchste Krone gestellt, sichtbar für alle Lebewesen, selbst die in der Stadt: eine aufrechte Gestalt, ihr Haupt geschmückt mit Edelsteinen und Vogelfedern in allen Farben. Vor der Brust hielt sie mit einer Hand die Sonne, in der anderen einen Speer. Jeden Tag legten ihr die vierzehn Toxinacen Opferspeisen zu Füßen. Und dann sangen sie, während vielerlei Vögel herangeflogen kamen, sich an den Früchten gütlich taten und die besten Stücke hinauftrugen auf den Bergpalast.
Nur einmal als Kind, vor zwölf oder dreizehn Jahren, hatte Royia einen Fuß auf den Baum gesetzt. Xocehe hatte ihm den Jadegott gezeigt. Jetzt ging er zum zweiten Mal über eine der Brücken. Zum zweiten Mal stand er vor der Statue. Er schätzte ihre Höhe auf vier Manneslängen – nicht gar so groß, wie er sie in Erinnerung hatte. Vor ihr ging er in die Knie und berührte mit den Lippen einen ihrer Füße. Ihm wurde schwindlig bei dem Gedanken, dass er jetzt stattdessen vor Toxina Ica selbst knien sollte. Ein säumiger Gott! Wann hat es das je gegeben?
Wie er es in Erinnerung hatte, befand sich zwischen den steinernen Füßen eine Öffnung. Damals war sie ihm unheimlich erschienen. Er ging hinein und stieg eine in den Baum gehauene Wendeltreppe hinab. Kleine Löcher und Spalten in der Rinde ließen das matte Licht der schwindenden Abendsonne herein. Royia lauschte, tastete sich voran und flehte im Stillen, dass seine Angst um Aja unbegründet sein würde. Er hörte Schritte – jemand lief durch die Gänge und Höhlungen in dem gewaltigen Baum. Vielleicht ein Toxinac, vielleicht ein Priesterschüler oder Wächter. Mehrmals musste er innehalten und in sich hineinlauschen, um Ajas Herzschlag nicht zu verlieren. Und um niemandem zu begegnen. Was würden die Toxinacen sagen, wenn sie ihn hier herumschleichen sähen, da er doch längst ganz woanders sein sollte? Den Gedanken an den Jadegang verdrängte er. Nur Ajas stetig langsamer werdendes Pochen zählte.
Noch eine Treppe, noch eine Kammer. Er trat durch einen schmalen Spalt. Dahinter eine weitere Kammer … Er keuchte auf, als er mit dem Kopf gegen etwas prallte. In der Düsternis erkannte er ein rundes Geflecht, das von der Decke baumelte. Aufgeregt flatterte ein großes Insekt darin. Sein Menschentöter.
Royia berührte den Käfig. Einer Eingebung folgend riss er ihn entzwei. Sofort krabbelte der Menschentöter auf seinen Unterarm, drehte sich und bohrte den Schwanz in seine Armbeuge. Ein Tropfen Licht quoll aus der Wunde. Der Käfer umschlang mit allen sechs Beinen seinen Arm und legte die Deckflügel an. Der Kopf ruhte auf dem Handrücken, bereit, den unbewussten Befehlen seines Herrn zu gehorchen.
Aja … hiiier.
»Aja?«
Er kam in eine größere Kammer, wusste nicht mehr, wie er die letzten Schritte zurückgelegt hatte, umschlang den kraftlos am Boden liegenden Körper, strich über ihre zarte Stirnhaut mit dem violetten Fleck, den fedrigen Rückenkamm. Warum, bei den Göttern, war sie so schwach? War sie verletzt? Er tastete nach einer Wunde.
Seine Finger waren klebrig von ihrem Blut. Aja, was ist mit dir geschehen? Wer hat das getan? Warum bist du hier?
Was er hörte, waren verzweifelte Versuche,
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