Der Leuchtturm von Alexandria
1
Der Vogel war verendet. Er war zur Seite gefallen und lag auf dem Boden des Weidenkorbs, seine Augen blickten glasig und wie eingeschrumpft. Als ich ihn anfaßte, fühlten sich seine Federn noch warm an. Aber es war auch ein warmer Tag.
Ich hatte den Vogel am Fuß der Gartenmauer gefunden. Sein einer Flügel war gebrochen, und er hockte dort mit weit aufgerissenem Schnabel und mühsam nach Luft ringend unter einem ein wenig vorspringenden Stein. Er rührte sich kaum, nicht einmal, als ich ihn aufhob. Irgendein Junge hatte von der hinter der Mauer verlaufenden Straße aus wohl einen Stein nach ihm geworfen.
Ich schiente den Flügel mit äußerster Sorgfalt. Zuerst spreizte ich ihn und verband ihn dann kreuzweise mit einem mit Wolle unterlegten Leinenstreifen, wobei ich den Verband am Gelenk etwas fester anzog, genau wie Hippokrates es empfiehlt. Hippokrates ist der Ansicht, daß Menschen, die sich etwas gebrochen haben, leichte Kost zu sich nehmen und unter Umständen eine Portion Nieswurz einnehmen sollten. Ich hatte jedoch keine Nieswurz, und die richtige Dosis für einen Vogel kannte ich sowieso nicht. So gab ich ihm etwas Wasser und fütterte ihn mit Brot und Milch. Ich legte ihn in einen Korb, stellte noch ein wenig zusätzliches Wasser dazu und brachte das Ganze auf den Heuboden über dem Pferdestall. Ich machte Philoxenos, unserem Pferdeknecht, ein kleines Geschenk, damit er niemandem etwas erzählte. Mein Kindermädchen, Maia, mochte es gar nicht, wenn ich mich als Ärztin aufspielte, vor allem nicht gegenüber ganz gewöhnlichen Vögeln und sonstigen Tieren. »Du bist eine junge Dame, Charis«, pflegte sie zu sagen. »Du bist die Tochter des Claristikus Theodoros von Ephesus, und ich erwarte von dir, daß du dich dementsprechend benimmst!« Sie meinte darissimus. Das ist lateinisch und außerdem ein römischer Titel; ich glaube, er bedeutet so etwas wie »außerordentlich bedeutend«, eine nicht ganz passende Bezeichnung für einen Mann wie meinen Vater, der sich eigentlich für nichts anderes als Pferderennen und Homer interessierte. Doch dieser Titel sollte ja auch nur zum Ausdruck bringen, daß er die Würde eines Konsuls innehatte und damit in unserer Provinz eine Persönlichkeit war. Maia konnte lateinische Worte nie korrekt aussprechen, nicht einmal Titel. Und sie liebte Titel. »Mein Gebieter ist seine Exzellenz Theodoros von Ephesus«, pflegte sie den Leuten auf dem Markt zu erzählen, »ein Claristikus und Konsul. Er war Statthalter von Syrien und Galatien, und in Konstantinopel bekleidete er den Rang eines Konsuls – und du willst mich übers Ohr hauen und mir einen Wucherpreis für eine Elle von diesem schäbigen Wollstoff abverlangen? Scher dich zum Teufel!«
Sich wie die Tochter des Theodoros von Ephesus zu benehmen hieß, lange Kleider mit einem purpurfarbenen Streifen am Saum und mit goldenen Stickereien am Umhang zu tragen und beides niemals, nicht ein einziges Mal schmutzig zu machen; es hieß, meine Haare in Locken zu legen und sie hoch aufzutürmen, damit sie vornehm aussahen, und dann auch noch darauf zu achten, daß sie keinesfalls in Unordnung gerieten; es hieß, auf den Fußboden zu blicken, wenn ein fremder Mann zugegen war, und den Mund zu halten. Es hieß außerdem, sich nicht als Ärztin aufzuspielen. Hippokrates aber durfte ich lesen. Nun ja, um genauer zu sein, niemand hatte etwas dagegen gesagt. Maia konnte nicht lesen und hielt es für damenhaft, wenn man überhaupt las! Mein Vater wußte überhaupt nicht, was ich las, und er interessierte sich auch nicht dafür, solange ich nur meinen Homer auswendig lernte! Und Ischyras, mein Hauslehrer, liebte Hippokrates. Nicht etwa, weil er sich für Medizin interessiert hätte. »Unverfälschter ionischer Dialekt!« pflegte er entzückt auszurufen, wenn wir einen Abschnitt über das Erbrechen lasen. »Das ist genauso hervorragend wie Herodot: er-bre-echen! Diese wundervollen Vokale, diese Musikalität!« Er schien niemals darauf Acht zu geben, was der Autor sagte, nur auf den Stil, in dem dieser etwas sagte. Einmal machte ich den Vorschlag, etwas von Galen zu lesen, aber er war entsetzt.
»Galen! Dieser alexandrinische Quacksalber! Also wirklich, er schreibt beinahe in der Umgangssprache, wie ein Händler auf dem Markt, nicht wie ein Gelehrter… Nein, nein, meine Liebe, überlaß die Naturwissenschaften nur den Händlern. Wir lesen lieber etwas Erhabeneres, etwas Wohlklingendes.« Ich hätte ihn darauf aufmerksam machen können,
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