Feuer der Rache
von Blankenese weggebracht und sie von ihrer geliebten Schwester getrennt, nur um die Schwangerschaft geheim zu halten. Und um weitere „Ausschweifungen" zu verhindern, musste sie bis zu ihrem Hauptschulabschuss in diesem katholischen Internat bleiben.
Ahnten ihre Eltern, wie sehr sie dort gelitten hatte?, fragte sich Sabine, als sie das Tagebuch durchblätterte. Hatten sie es ignoriert? War es ihnen egal, oder dachten sie, diese Maßnahme wäre richtig, um die gefallene Tochter auf den christlichen Pfad der Tugend zurückzuführen? Sabine schüttelte es. Dabei hätte sie Liebe gebraucht, jemanden, der ihr Halt und Trost gab, der für sie da war und ihr bei ihrem Kampf gegen Angst und Schuldgefühle beistand!
Die Eltern zwangen Iris, die Adoptionsunterlagen zu unterschreiben, denn obwohl sie minderjährig war, musste offiziell sie über das Schicksal ihres Kindes entscheiden.
Iris stimmte der anonymen Vermittlung zu. Kein Wunder, nach dem Druck, den vor allem die Mutter auf sie ausgeübt hatte. Für Frau Stoever war der Fall damit anscheinend erledigt. Für Iris nicht. Immer wieder tauchte ihr Sohn in ihren Tagebüchern auf. Sie fragte sich, ob es ihm gut gehe, ob sie richtig entschieden hatte -ob ihre Schuld sich auf das Leben des Kindes auswirken würde.
Und immer wieder die Sehnsucht nach dem Tod, nach der Erlösung von ihrer Qual. Es war seltsam. Sie kam wiederholt auf eine Begegnung mit einem Fremden am Eibufer zu sprechen. Groß und bleich sei er gewesen, mit langem schwarzen Haar und dunklen Augenbrauen. Er habe sie so seltsam angesehen, dass sie nicht anders konnte, als ihm von ihrem Leid zu erzählen.
Ich habe mich auf diesen Pakt eingelassen. War es ein Engel oder ein Teufel, der mich trieb, zehn Jahre durchzuhalten? Ich weiß es nicht. Aber ich quäle mich jeden Tag und sehe, wie die Zeit langsam verrinnt. Was werde ich tun, wenn die Frist verstrichen ist?
Eine vertraute Gestalt huschte durch Sabines Gedanken. War das möglich?
Die zehn Jahre vergingen. Wieder jährte sich das Osterfest. Sabine nahm sich die letzten Eintragungen vor. Was war das? Zwischen den Seiten fand sie Zeitungsausschnitte, alle über den gleichen Fall: Tobi, das zu Tode misshandelte Adoptivkind. Konnte das sein? War Tobi Iris' Sohn? Sie schien davon überzeugt zu sein. Vergeblich belagerte sie die Adoptionsbehörde: Sie wollten ihr keine Auskunft geben. Immer tiefer steigerte sie sich in die Verzweiflung, sie sei auch am Leiden ihres Kindes schuld. Unten auf der Seite hatte Aletta etwas dazugeschrieben. Sabine hielt das Buch näher an die Augen.
Sie hat sich geirrt. Tobi war nicht ihr Sohn. Ihr Sohn wird Patrick genannt und lebt bei einer Familie in Winterhude.
Sabine wischte sich die Augen. Sie klappte das Buch zu. Ein Brief flatterte heraus, an Maike, Carmen und Aletta. Es war der Abschiedsbrief, den die Kommissarin gesucht hatte.
Die Zeit ist gekommen, eine Entscheidung zu treffen. Etwas trieb mich, nach diesen zehn Jahren allein zum Osterfeuer zu gehen.
Es war alles wieder da. Ich sah das Feuer und roch den Rauch, ich hörte die Menschen, und es war wieder der Tag, an dem mein altes Leben aufhörte. Ich fühlte mich wie gelähmt und stand dort im Meer der Menschen, als ich plötzlich ihre Stimmen vernahm. Habe ich es mir nur eingebildet? Ich weiß es nicht. Aber ich konnte sie ganz deutlich hören: Sven, Alex, Kai, Lorenz und Eike. Ich roch ihren Schweiß und das Bier, und ich fühlte wieder die Hände, die mich packten, die mir die Kleider vom Leib rissen und mich auf den Boden drückten.
Sie lachten und verhöhnten mich. Und wieder konnte ich mich nicht rühren, konnte nicht einmal schreien. Es war die gleiche Ohnmacht. Ich entglitt meinem Körper. Ich konnte mich von fern sehen -und als ich zu mir zurückkehrte, waren nur fremde Menschen um mich und fremde Stimmen. Nur die Übelkeit und die Angst, sie waren Wirklichkeit.
Zehn Jahre sind vergangen. Ich habe es ihm versprochen. Aber er hat sich geirrt. Manches können Menschen nicht vergessen. Es bleibt immer bei uns, und es quält uns, bis unser Leben endet.
Vielleicht hätten wir uns damals wehren sollen, zusammenhalten und dafür sorgen, dass die Fünferclique dafür bestraft wird, was sie uns angetan hat. Vielleicht hätte es uns geholfen, den Schmutz und das quälende Gefühl der Schuld abzustreifen. Es ist sinnlos, sich heute Gedanken darüber zu machen, ob man sie verurteilt hätte oder ob es ihren Familien gelungen wäre, sie freizukaufen, und wir damit
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