Feuer der Rache
nicht auf. Lies ihren Abschiedsbrief und entscheide dich dann. Ich werde mich zurückziehen."
Er legte die Hand auf die Brust und verbeugte sich. Seine Konturen begannen sich aufzulösen.
„Du kannst dich jetzt nicht einfach davonmachen", kreischte sie, doch er gab keine Antwort. Er war verschwunden. Nur noch ein Hauch von Nebel hing in der Luft.
Die Kommissarin trat ans Bett und blickte auf die Tote hinab. Sie sah so friedlich aus. Anscheinend hatte der Vampir sie nicht leiden lassen. Tränen rannen Sabine über das Gesicht.
Nun hast du dein Versprechen eingelöst, dachte sie. Den Abschiedsbrief musste sie nicht lesen, um zu wissen, was in ihm stand. Sie wandte sich ab und verließ das Haus. Langsam fuhr sie nach St. Georg zurück.
Als Sabine ihr Schlafzimmer betrat, fand sie einen dicken DIN-A4-Umschlag auf ihrem Bett und eine einzelne samtschwarze Rose. Wütend warf sie die Rose in den Papierkorb.
Dieses Mal würde sie ihm nicht so einfach verzeihen. Er hatte Aletta ermordet! Eine junge Frau, die noch ihr ganzes Leben vor sich hatte! Ein Leben hinter Gittern, erinnerte sie eine Stimme. Wie viele Jahre hätte sie für fünf vorsätzliche Morde bekommen? Wie hätte sie im Gefängnis gelitten?
Aber irgendwann wäre sie wieder frei gewesen und hätte leben können!
„Ja?"
„Ja!", schrie sie und nahm den Umschlag. Sie wollte ihn zerreißen und zu der Rose in den Papierkorb werfen. Sie wollte auf den Resten herumtrampeln, schreien und toben.
Wie konnte er es wagen, ein Leben auszulöschen? Sie wollte nicht hören, dass es Alettas Entscheidung gewesen war, und er -streng genommen -bei einem Selbstmord geholfen hatte. Und sie wollte auch nicht daran denken, was nun aus Carmen und Maike werden sollte. Sie war verpflichtet, ihr Wissen den Kollegen mitzuteilen. Der Staat hatte die Aufgabe, Kapitalverbrechen zu verfolgen und sie aufzuklären. Da konnte nicht einfach einer kommen, die ganze Schuld auf sich nehmen und zwei Mörderinnen damit reinwaschen. Aber waren sie denn Mörderinnen? Waren sie nicht eher Mitwisserinnen oder nur Opfer? Opfer, die von fünf Männern grausam um ihre Jugend und um ein selbstverantwortliches Leben gebracht worden waren? Sie hatten die Schule wechseln müssen, den Beruf nicht erlernen können, von dem sie geträumt hatten, niemals das Glück der ersten Liebe kennengelernt und waren vermutlich ihr Leben lang nicht in der Lage, eine befriedigende Partnerschaft zu führen, während die Täter zehn Jahre lang ihren Wohlstand genossen hatten, offensichtlich ohne auch nur im Geringsten Reue für ihre Taten zu empfinden. Ihr Gefühl sagte Sabine: Sven, Kai, Alex, Lorenz und Eike hatten ihr Ende verdient! Alle fünf waren sie Vergewaltiger und Mörder gewesen -Mörder an der Seele von vier unschuldigen Mädchen. Selbst wenn kein Staatsanwalt diese Folge von Ereignissen als Beweiskette anerkennen würde, für Sabine stand fest: Sie hatten Iris in den Tod getrieben.
Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn sie damals nicht geschwiegen hätten? Sabine dachte darüber nach und schüttelte dann den Kopf. Nein, eine Familie von Raitzen, von Everheest oder Sandemann hätte Mittel und Wege gefunden, diese „unangenehme Geschichte" zu vertuschen. Man hätte die Mädchen gebrandmarkt, nicht die Täter! Diese wären ungestraft davongekommen.
„Verdammt! Verdammt! Verdammt!", schrie sie. Irgendwann einmal hatte sie gedacht, Recht und Gerechtigkeit seien das Gleiche. Was sollte sie nun tun? Alettas Opfer wäre umsonst, wenn sie ihrer Pflicht als Kripobeamtin nachkam. Sie nahm den Umschlag, um ihn in den Korb zu schleudern, hielt aber mitten in der Bewegung inne.
Sie war nicht im Dienst. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis man sie suspendierte und ihr in einer langweiligen Behörde einen Job verschaffte, in der eine etwas durchgeknallte Beamtin keinen Schaden anrichten konnte. War sie den alten Kollegen noch verpflichtet? Sie hatten ihren Ersatz doch schon gefunden. Michael fügte sich prächtig in die Gruppe ein. Sie war draußen!
Eine seltsame Ruhe überkam sie. Sabine ließ sich aufs Bett sinken, den geschlossenen Umschlag noch immer in der Hand. Der Zorn fiel in sich zusammen. Die Kollegen der Kripo würden Alettas Geständnis auswerten, Carmen und Maike sich weiterhin gegenseitig ein Alibi geben, das Frau Jacobson unterstützen würde. Vielleicht würden sie sich von den dunklen Wirren erholen und irgendwann ein normales Leben führen können, jetzt, da die Vergewaltiger endlich gestraft
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