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Feuer: Roman (German Edition)

Feuer: Roman (German Edition)

Titel: Feuer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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Ledersohlen seiner Schuhe von den Betonplatten des Bürgersteigs absorbiert. Nur wie durch einen Schleier nahm er all die Anzeichen dafür wahr, dass es nach dem Temperatursturz in der Nacht wieder ein warmer, sonniger Tag werden würde; er sah das Glitzern der Sonnenstrahlen in den wenigen Pfützen, hörte das Zwitschern der Vögel, registrierte die kaum verhüllte, sonnengebräunte Haut zweier junger Mädchen, die die Straße überquerten – und doch berührte ihn davon nichts wirklich. Er kam sich auf eine Art deplatziert vor, wie er sie sich zuvor niemals hatte vorstellen können.
    »Es ist an der Zeit, dass wir uns kennen lernen«, sagte eine tiefe Stimme hinter mir.
    Ich wirbelte herum. Die Hoffnung, Guntram vor mir zu sehen, zerstob in dem Moment, in dem ich in ein mir fremdes und doch irgendwie vertraut wirkendes Gesicht sah. Ein Blick aus kalten, vollkommen gefühllos wirkenden Augen schien mich geradezu aufzuspießen, als ich einen Schritt auf den Fremden zumachte.
    »Was soll das?«, herrschte ich ihn an. »Habt Ihr etwas mit den Zerstörungen hier zu tun?«
    Der Mann war ein Stück kleiner als ich, doch die Art, wie er mich anstarrte, machte mir mehr Angst, als wenn er mich um Haupteslänge überragt und eine blutige Streitaxt in den Händen gehalten hätte; was auch daran liegen mochte, dass seine Gesichtszüge etwas von einem Raubtier an sich hatten, von einem Wolf um genau zu sein. Dazu passte, dass sein Umhang aus Wolfspelzen gefertigt war, und das auf eine gleichermaßen so abstoßende wie kunstvolle Art, wie ich es noch nie gesehen hatte: Von den Schulterstücken grinsten mir die nackten Totenschädel zweier Wölfe entgegen.
    Will beschleunigte seine Schritte, als könne er so dem weglaufen, was sich in seinem Kopf abspielte. Der Geruch von Feuer, Schnee und Eis hing ihm in der Nase, als wenn es hier tatsächlich irgendetwas gäbe, was danach röche, und vor seinen Augen glaubte er nach wie vor den Mann mit dem Wolfsumhang zu sehen … Wolfsköpfe sind viel zu groß, um als Schulterstücke zu taugen, dachte er sich, und im gleichen Moment wurde ihm bewusst, wie gefährlich dieser Gedanke war, der etwas, was ihm sein Unterbewusstsein vorgaukelte, mit logischer Überlegung in die Schranken verweisen wollte. Sich an einem Augustmorgen in einer archaischen, von Schneemassen bedeckten und von tosendem Wind umheulten Schmiede zu wähnen sprach wahrlich nicht gerade für geistige Gesundheit. Das wurde auch nicht dadurch besser, dass die durch Übermüdung hervorgerufene Halluzination (er hoffte zumindest, dass sie nur seiner Erschöpfung zuzuschreiben war und nicht Schlimmerem) so erschreckend real wirkte. Er versuchte sich auf diese Wolfsköpfe zu konzentrieren, die die Schultern des in Fell gekleideten Mannes schmückten, er versuchte sich im wahrsten Sinne des Wortes vor Augen zu führen, dass sie, im Gegensatz zu dem hellen Sonnenlicht, das die grauen Betonplatten zu seinen Füßen fast gleißend reflektierten, nicht real sein konnten; er versuchte mit ihrer Hilfe, die fragile Grenze zwischen Fantasie und Wirklichkeit wieder ein Stück stabiler zu machen – und tatsächlich begannen erst die nackten Totenschädel der beiden Raubtiere und dann das Bild des Mannes vor seinen Augen zu verblassen …
    … und je länger ich auf die Köpfe starrte, umso mehr schien die Gestalt des Wolfsgesichtigen vor meinen Augen zu zerfließen, so als hätte sie gar keinen richtigen Bestand, sondern sei nicht mehr als das verzerrte Abbild von etwas ganz anderem, nicht Fassbarem …
    … und dann, nach einem letzten Aufflackern, war es schließlich ganz verschwunden. Will atmete hörbar auf. Diese Halluzination war … beängstigend, um es vorsichtig auszudrücken, und außerdem stieg in ihrem Gefolge etwas anderes hoch, die Erinnerung an Träume, die ihn wohl als ganz kleines Kind geplagt haben mussten. Bevor er den Gedanken fassen konnte, entglitt er ihm wieder, so wie jedes Mal, wenn er die Erinnerung an seine ersten Lebensjahre zurückzuzwingen versuchte. Wäre er jetzt in einer vertrauten Umgebung, würde er sich etwas zu trinken genehmigen und sich mit dem Drink in einen Sessel zurückziehen, bis sich das Zittern seiner Hände beruhigt hätte und seine Gedanken nicht mehr wie losgetretene Kiesel durcheinander purzelten. Das Bild des Fremden, das sich dem einfachen Karomuster des Bürgersteigs überlagert hatte, als seien auf mystische Weise zwei gänzlich verschiedene Wirklichkeitsebenen dabei, sich miteinander zu

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