Feuer / Thriller
um sich die nächsten vorzunehmen. Seitdem beherrschte die Grube ihre Träume: Finster, schier bodenlos und voller Leichen. Ungelöschter Kalk war nicht gut zu Menschenfleisch.
Ihre Finger krampften um das Lenkrad, während sie versuchte, sich zu beruhigen und die Panik niederzukämpfen. Denn sieben Monate und Dutzende von Leichen später gefror sie noch immer innerlich zu Eis, wenn sie wusste, dass ein neues Opfer auf sie wartete.
Ein winziges Problem für eine Mordermittlerin,
dachte sie verbittert.
»Jetzt steig schon aus«, murmelte sie, »und mach deinen Job.« Sie biss die Zähne zusammen, holte tief Luft und zwang ihre Füße, sich zu bewegen. Dann setzte sie eine konzentrierte Miene auf, als gäbe es keinen Gedanken in ihrem Kopf, der nichts mit diesem Tatort zu tun hatte. Mit dieser Nacht. Diesen zwei Opfern. Ein Wachmann mittleren Alters und ein junges Mädchen, noch nicht erwachsen.
Denk an diese zwei. Denk daran, dass du ihnen Aufklärung schuldig bist. Mach deinen verdammten Job!
Noch einmal holte sie tief Atem und verzog das Gesicht, als ihr beißender Qualm in die Lungen drang. Das Feuer hatte stark gewütet. Gleich zwei Löschzüge hatten auf den Notruf reagiert: zwei Tanklöschfahrzeuge, eine Drehleiter und zwei Rettungseinheiten, die nun doch nicht gebraucht worden waren.
In dieser Nacht gab es nur noch eine Fahrt zum Leichenschauhaus.
Während sie auf das Gebäude zuging, ertappte sie sich dabei, wie sie die Feuerwehrfahrzeuge nach der Nummer der jeweiligen Wache absuchte, auch etwas, was sie sich in den vergangenen sieben Monaten angewöhnt hatte und was sie fast so verabscheuungswürdig fand wie ihre neue Angst vor Leichen. Dass sie überhaupt wusste, welche Kennnummer sein Fahrzeug hatte, war peinlich genug. Es sollte sie nicht kümmern, ob er hier war oder nicht. Aber natürlich war es ihr nicht egal.
Wie jämmerlich benehme ich mich eigentlich? Herrgott, verdammt jämmerlich.
Sie zuckte zusammen, als sie »L21« auf dem Drehleiterwagen mit dem Korb las. Er war hier. Oder zumindest seine Wache.
Lass ihn bitte heute Nacht keinen Dienst haben. Such Kane und mach deinen Job.
Kane war leicht in der Menge auszumachen. Ihr Partner war ein hochgewachsener Mann, sogar verglichen mit den Polizisten und Feuerwehrleuten, die er meist um mindestens einen Kopf überragte. Er war außerdem der Einzige hier, der einen schwarzen Fedora trug. Sie wusste, dass er den Hut nur dann trug, wenn es um Brandstiftung ging. Er roch nach kaltem Rauch, und seine Frau Jennie verlangte, dass er ihn in der Garage aufbewahrte.
Alle anderen Filzhüte wurden mit größter Sorgfalt auf Styroporköpfen im Gästezimmer aufbewahrt. Alle in der Abteilung Gewaltverbrechen trugen Filzhüte bei der Arbeit, und diese hübsche Tradition war schon lange vor Olivias Zeit ins Leben gerufen worden. Sie war als Symbol gedacht, als eine Art Verbindungsglied zu früheren Ermittlern, und inzwischen war sie außerdem zu einer Legende dieser Stadt geworden: Die Mordkommission war im Allgemeinen als »Hat Squad« – das Hutkommando – bekannt.
Wenn neue Ermittler ihren ersten Mordfall aufklärten, bekamen sie von ihren Kollegen, der Squad, ihren ersten Fedora geschenkt. Kane hatte Olivia den ihren geschenkt, aber sie kam sich ein wenig albern damit vor. Nun schmückte er auf ihrem Schreibtisch im Büro die Büste einer griechischen Göttin, die sie auf einem Flohmarkt gefunden hatte.
Kane hingegen mochte seine Hüte. Er besaß mindestens ein Dutzend. Kane sah gern gut aus.
Im Augenblick sah Kane aber vor allem perplex aus. Olivia ging den Hang hinauf auf ihn zu. Er stand mit einem uniformierten Beamten über eine Bahre gebeugt. Der Gerichtsmediziner hockte neben der Leiche und verpackte die Hände in Plastiktüten, und Olivias Magen hob sich.
Nicht schon wieder.
Sieh sie an,
befahl sie sich barsch. Sie ist bestimmt … intakt. Olivia sog den Atem ein, zwang ihren Blick hinab und stieß die Luft aus, als die Erleichterung sie überspülte. Das Opfer war tatsächlich unversehrt. Die Knochen waren von Haut und Gewebe bedeckt –
alle
Knochen.
Das Schlimmste war überstanden.
Jetzt kann ich meinen Job tun.
Das Mädchen sah aus wie sechzehn. Das wächserne Gesicht und das lange blonde Haar waren voller Schmutz und Ruß, ebenso das dünne, ausgeblichene T-Shirt. Die Jeans waren zerschlissen, jedoch nicht durch intensives Tragen, sondern künstlich auf alt getrimmt. Ihre Füße waren nackt, die Sohlen verbrannt, die Fußnägel
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