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Feueratem

Feueratem

Titel: Feueratem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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von euch, dass ihr euch hier versammelt habt.« Seine Stimme war leise und samtig, ein bisschen melancholisch, aber bei den dunkel umrandeten Augen war auch kaum etwas anderes vorstellbar. »Meine Schwester und ich sind auf der Suche nach einem Mädchen … einem ganz besonderen Mädchen.«
    Seine schmalen Mundwinkel hoben sich bei den Worten, und die Herzen um mich herum pochten lauter. Schwester! Schwester hatte er gesagt, nicht Gattin! Sollte er am Ende noch zu haben sein? Ich schüttelte den Kopf, aber so, dass es niemand merkte. Er mochte ein Gentleman sein, aber mir war er viel zu alt.
    »Meiner Schwester Gesundheit ist angegriffen«, fuhr er fort, »und so war es ihr nicht möglich, mich hierher zu begleiten, dass nun die schwere Bürde, die Richtige unter euch zu finden, auf mir liegt.« Während er sprach, wanderte sein Blick von einer zur anderen und blieb auf jeder gleich lang liegen, egal ob sie sich für ihn groß oder klein machte. »Eine Frage bat sie mich jedoch, euch zu stellen.« Er machte einen Schritt zurück, um uns alle gleichzeitig erfassen zu können, sechzig Mädchen in drei Reihen. »Wer von euch spielt gerne mit Puppen?«
    Es konnte eine Fangfrage sein, geeignet, die älteren Mädchen von den jüngeren zu trennen und die arbeitsamen von den verspielten, und solange niemand wusste, wonach er suchte, zögerten die meisten, ihre Hand zu heben, bis auf die ganz kleinen in der vorderen Reihe, denen man das Gegenteil so oder so nicht abgenommen hätte. Aber als Mr. Molyneux plötzlich selbst eine Puppe in den Händen hielt, gingen die Finger nach oben.
    Ich starrte auf die Puppe und fragte mich, wo sie so plötzlich hergekommen war. Es handelte sich nicht um ein kleines Püppchen, sondern um eine große Puppe mit blonden Locken, gekleidet in ein prachtvolles rubinrotes Kleid mit Spitzenrüschen und drei Unterröcken. Bestimmt war es eine französische Puppe, wie sie niemand von uns besaß, und für die unsere kleineren Mädchen ihre Gesichter an den Schaufensterscheiben der Spielwarenhändler plattdrückten, dass sie zur Adventszeit mit ihren verschnupften Näschen daran festfroren und Miss Mountford sehr zornig dreinblicken musste, wenn die armen Dinger unglücklich und blutend wieder zurück waren.
    Von wo mochte der Mann die Puppe hergenommen haben? Sein Anzug saß zu eng, als dass er sie unter der Jacke hätte verstecken können, und ich hätte schwören können, dass seine Hände eben noch leer gewesen waren. Im Zirkus gab es auch Zauberkünstler … Plötzlich sah ich den Mann in ganz neuem Licht, während um mich herum alles auf das Biskuitgesicht mit den großen blauen Augen starrte, dessen Mündchen noch kleiner war als das unserer Vorsteherin, so winzig, dass es nichts als ein Lächeln zeigen konnte. Doch mein Arm blieb unten.
    Ich versuchte mich zu erinnern, ob ich seine Hände zuvor überhaupt gesehen hatte, oder ob sie nicht vielmehr die ganze Zeit über hinter seinem Rücken verborgen waren. Hatte er mich vielleicht deswegen an eine Dohle denken lassen, weil seine Arme an Flügel erinnerten? Ich zwinkerte. Zirkus oder nicht, ein Zauberer beherrschte seine Tricks, weiter nichts, und er konnte die Puppe ja schlecht aus der leeren Luft gegriffen haben.
    Dann fing mich sein Blick ein. Ich sah ihn an mir hinunterblicken und wieder hinauf, und vielleicht war das sogar ein Lächeln in seinem Gesicht, aber ich erwiderte seinen Blick mit dem gleichen leichten Nicken, das er mir entgegenbrachte.
    »Und du, Mädchen?«, fragte er. So hätte er jede von uns anreden können, und doch wussten wir alle, dass ich gemeint war. »Spielst du nicht gerne mit Puppen?«
    »Nein«, erwiderte ich. »Das tue ich nicht.«
    »Und warum nicht, wenn ich du mir diese Frage gestattest?«
    Natürlich gestattete ich. »Sie sind tot und reden nicht mit mir«, antwortete ich. »Eine Puppe gibt mir nicht das, was mir ein Buch gibt.« Ich biss mir auf die Lippe. Es war kein großes Geheimnis, dass ich liebend gerne Romane las, aber doch nichts, was Miss Mountford so direkt hören musste. Ein Mädchen, das Zeit zum Lesen hatte, konnte noch ganz andere Sachen tun – nützliche, vorzugsweise.
    »Bedauerlich«, sagte der Gentleman, »sehr bedauerlich.« Und er wandte den Blick von mir ab. Da wusste ich, dass wir so nicht ins Geschäft kommen würden, und dass es das Beste für uns beide war. »Aber ihr anderen Mädchen, ihr liebt Puppen?« Wildes Nicken, ob nun aus echter Begeisterung oder vorgetäuschter. Ich war mir

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