Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Feueratem

Feueratem

Titel: Feueratem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
Vom Netzwerk:
voran, ins Ungewisse.
    »Das ist sie also?«, fragte die Lady.
    »Das ist sie«, wiederholte der Gentleman. Und ich bildete mir ein, dass sie beide ein bisschen zu skeptisch dabei klangen, vielleicht sogar missbilligend, aber was immer sie stören mochte, es war nichts, was zu ändern in meiner Macht lag. Trotzdem, es verletzte mich. Sie hätten so viele Mädchen haben können und ausgerechnet mich genommen – dann mussten sie jetzt auch damit leben, dass ich ich war und nicht wie die anderen.
    Ich zog mich etwas tiefer in die Schatten zurück. In meinen Träumen stand ich zwar im Licht, und alles jubelte mir zu, aber ich war selbst auch tüchtig im Beobachten, eine Kunst, die jedes gut ausgebildete Waisenmädchen beherrschen sollte: Nicht aufzufallen, wenn ich nicht auffallen wollte, hatte mich schon an manchem Tag gerettet, sei es vor Miss Mountford, der Köchin oder auch nur einem älteren Mädchen. Mr. Molyneux konnte sich ruhig mit seiner Schwester unterhalten; mir sollte das nur recht sein.
    »Die Einzige?«, fragte die Lady.
    »Ich hatte noch zwei andere im Verdacht«, erwiderte er. »Aber sie erschienen mir … ungeeignet.«
    »Immerhin«, sagte sie. »Das ist mehr als in den anderen Häusern, die wir besucht haben.«
    Danach waren sie erst einmal still, die Kutsche rumpelte, und ich konnte nachdenken. Es gab nur zwei Waisenhäuser in Whitton, und das andere war für Jungen – das hieß, sie mussten sich auch in London selbst umgesehen haben. Wollten die beiden jetzt nicht nur mich, sondern waren am Ende auf der Suche nach einem ganzen Stall kleiner bis mittelgroßer Mädchen? Aber wofür? Egal, es sollte mir recht sein. Sie hatten mich immerhin ausgewählt – wenn das sogar aus einer größeren Auswahl geschehen war, ehrte mich das umso mehr.
    »Es ist Zeit, heimzufahren«, sagte Mr. Molyneux zu seiner Schwester. Und dann, man sollte es kaum für möglich halten, beugte er sich zu mir vor, als wäre ihm plötzlich wieder eingefallen, dass ich existierte. »Hast du eine Vorstellung, warum wir dich ausgewählt haben, und wofür?«, fragte er.
    Ich schüttelte den Kopf. »Wenn Sie es mir nicht sagen wollen …«, sagte ich und spielte schüchterner, als ich war. Ich war in keiner Position zum Frechsein. Noch konnten sie es sich anders überlegen und wieder umkehren, oder noch schlimmer, mich mitten im Regen auf der Straße aussetzen. Nicht dass ich etwas gegen ein bisschen Freiheit einzuwenden gehabt hätte, aber ich wollte den Zeitpunkt, an dem ich mein großes Abenteuer begann, gern selbst bestimmen.
    »Das will ich in der Tat nicht«, sagte er und lächelte leicht. »Es würde wenig Sinn ergeben. Ich es müsste es dir ein zweites Mal erklären, wenn wir erst einmal Hollyhock erreicht haben. Du wirst deine Augen brauchen, um zu lernen, nicht nur deine Ohren.«
    Mir gefiel der Name des Hauses. Hollyhock, das klang besser als St. Margaret’s. Hollyhock Hall. Das Malvenhaus. Ich stellte mir vor, dass es auf dem Land lag, weit weg von der Zivilisation, ein altes Herrenhaus, in dem die Geschwister wohnten, mit niemandem als einem alten, fast blinden Diener und ihrem Kutscher. Und natürlich rankte sich ein Geheimnis um das Haus. Es gab kein altes Haus ohne Geheimnisse.
    »Ich nehme an, Sie wollen mich nicht zur Tochter?«, versuchte ich es vorsichtig mit einer Frage, wo ich schon einmal seine Aufmerksamkeit hatte.
    »Du wirst noch erfahren, für was wir dich brauchen«, erwiderte der Gentleman. »Und du wirst damit zufrieden sein. Wir möchten kein unglückliches kleines Mädchen in unserem Haus haben. Sei brav und halte dich an die Regeln, dann müssen wir dich auch nicht bestrafen. Ungerechtigkeit liegt uns fern. Sie ist so lästig.« Wieder lächelte er in dem spärlichen Licht, das durch die Ritzen hereinfiel.
    »Ja, Mr. Molyneux, Sir«, sagte ich und nickte. »Madam.« Das sollte als Anrede erst einmal unverfänglich sein. Dass ich Worte wie ‚Vater’ oder ‚Mutter’ erst einmal nicht in den Mund nehmen musste, war ganz in meinem Sinn. Sie hätten sich nur fremd angefühlt. Die Molyneux’ waren nicht meine Eltern, nicht meine Familie, und sie sollten wissen, dass ich das nicht nur akzeptierte, sondern froh darüber war. Es hätte die Dinge nur unnötig erschwert. Nur dass sie mich noch keinmal nach meinem Namen gefragt hatten, störte mich ein wenig. Ich wollte nicht für den Rest meines Lebens, oder zumindest meiner Jugend, mit ‚Mädchen’ angeredet werden. Dass ich kein Junge war, wusste ich

Weitere Kostenlose Bücher