Feueraugen I. Das Dorf

Doktor seufzt hörbar.
    "Ins Dorf zurück würden wir wahrscheinlich auch nicht mehr finden." erklärt der Signore.
    Schließlich bereitet Baldwin dem langen Zaudern und Zweifeln ein abruptes Ende. Mit der ihm eigenen Nonchalance und einer wohldosierten Prise Humor verkündet er seine Entscheidung.
    "Macht es Euch in den Wagen bequem, Kinder! Versucht ein wenig zu schlafen. Morgen haben wir viel vor. Heute können wir nichts mehr tun."
    Baldwin hat begriffen, dass er seiner Mannschaft nicht weitere Stunden und Kilometer in dieser Öde zumuten darf. Doch dann sieht er auf seine Armbanduhr. "Eigentlich ist es noch sehr früh ... kaum zehn. Irgendwie müssen wir die Nacht hinter uns bringen."
    "Seid Ihr soweit? Campen oder nicht campen?" ruft Zeramov vom Mercedes herüber.
    "Keine Sorge, Kameraden!" der Signore hat seine gute Laune noch immer nicht verloren. "Schlimmer kann es nicht werden, was Luigi?"
    Der freundschaftliche Schlag auf die Schulter tröstet seinen Freund allerdings nur wenig.
    "No, Herr Signore, ich mecht schon darauf hinweisen, dass ...!"
    Weiter kommt Dr. Glücklich nicht.
    Baldwin explodiert.
    "Hört auf!" schreit er. "Macht mich nicht nervös mit eurem Gezweifel. Ab in die Wagen und keinen Mucks mehr! Wir campen, Alexej!" wütend stampft er zum Mercedes zurück und gibt dort Cassius und Zeramov sofort eine Menge Anweisungen, wie man sich für die Nacht ein-zurichten habe.
     
    *         *         *
     
    Mondlose Nebelnacht!
    Wie schwere Schleier hängen die Nebel über der Landschaft. Vom Wagen Baldwins aus kann man den keine zwanzig Schritte entfernt stehenden Ford nur umrisshaft erkennen.
    Bis auf den Chef und seine drei engsten Mitarbeiter –Zeramov, Rodolphe und Cassius- wissen sie alle nicht recht, warum sie eigentlich hier sind. Der von seiner Zunft nicht gerade mit Anerkennung und Lob überhäufte Filmregisseur James Jones Baldwin hat ihnen zu diesem neuen Projekt lediglich einige vage Andeutungen gemacht – die Dringlichkeit und Notwendigkeit der Reise jedoch um so dramatischer betont. Eine Studienreise - als Vorbereitung zu einem neuen Film!
    Auf Baldwins Einladung hin sind sie vor einer Woche im belgischen Antwerpen - des Regisseurs derzeitigem Wohnsitz – zusammengetroffen. Zehn Filme hat man schon gemeinsam gedreht und sich untereinander angefreundet.
    Baldwins Team -der feste Kern- besteht aus drei Mitarbeitern: dem oft recht selbstherrlichen Drehbuchautor Alexej N. Zeramov, dem wortkargen Kameramann Cassius Delay und dem ehemaligen Fremdenlegionär Rodolphe Hiller, der als eigenbrötlerischer Bühnenbildner zu Baldwin gestoßen ist. Signore Musselino und dessen Freund Ricci sind Bekannte einer Italienreise zum ersten Film, den Baldwin, Zeramov, Cassius und Rodolphe noch als Quartett gemeinsam 'erarbeitet' haben – mit sozusagen 'unfreiwilligen Darstellern' – ungefragt gefilmten Passanten – darunter eben auch die beiden italienischen Freunde. Marlène Lableue und Michel Michelin wurden von einem französischen Revuetheater weg engagiert, um eine Parodie auf sentimentale Liebesfilme zu drehen. Dr. Chaim Glücklich – ein polnischer Emigrant- ist wiederum ein Bekannter dieser beiden aus Paris. Sein Titel sollte nicht darüber hinweg täuschen, dass Glücklich sich seinen 'Doktor' immer nur erträumt hat. In Paris ist er als 'letzte Station' unfreiwillig schwangerer Damen bekannt geworden. Schauspielerische Ambitionen hat er zwar nie gehabt, seine Freunde (und natürlich Baldwin) sehen in ihm jedoch ein Naturtalent.
    Zwei weitere Personen haben sich Baldwins Team erst vor Kurzem angeschlossen: die erfolglose, englisch-tibetische Modeschöpferin Dalia Lama und ein Herr, von dem sie genau genommen alle überhaupt nichts wissen. Selbst Baldwin kennt diesen Herrn nur als 'Mr. X' und nennt ihn ganz schlicht 'X'.
    Bis auf die beiden Letztgenannten sind sie alle gemeinsam von Antwerpen zur angekündigten 'Forschungsreise' aufgebrochen.
    'Ich habe ein Projekt, mit dem wir endlich Erfolg haben werden!' so Baldwins Worte. Alle sind gespannt, was aus diesem Projekt werden soll … gerade jetzt, wo sie in zwei Wagen sitzend mitten auf einer öden Ebene frieren. Man hat sich verirrt und bereits viel Zeit verloren.
    Immerhin findet der Signore, diesen vor Unternehmungslust übersprudelnden Baldwin grundsätzlich amüsant. Da Giorgio Musselino ein Mann von eminenter Ausstrahlungskraft ist, wirkt sich seine Gelassenheit und seine innere Überzeugung meist auf die anderen aus.