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Feuersteins Reisen

Feuersteins Reisen

Titel: Feuersteins Reisen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herbert Feuerstein
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Nasereiben und die Sitte des Frauenverleihs durch den Inuit-Hausherrn. Vor allem von der letzteren erhoffte sich Wolpers natürlich auch persönliche Erfahrungen.
    Die Begegnung mit dem Experten fand in meiner Wohnung statt. Wir näherten uns voller Misstrauen — und trennten uns auch so. Kein Wunder. Denn auf welcher Ebene sollte ich Ahnungsloser mich mit einem Wissenschaftler messen, der sich seine Erkenntnisse vor Ort buchstäblich zusammengefroren hatte, im steten Ringen mit den Geheimnissen hochkomplizierter Sprachen und den Mysterien unergründlicher Riten? Einem Mann, der alle denkbaren Entbehrungen auf sich genommen hatte, um die Straße des Wissens wenigstens einen einzigen Schritt weiter voranzugehen — mit der bitteren Einsicht womöglich, beim letzten Kreuzweg die falsche Richtung eingeschlagen zu haben?
    Das Bild, dass er von meinem Team und mir hatte, war mir völlig klar: eine Horde von Halbaffen, die mit dem Hubschrauber in bisher keusche, unberührte Landschaften einschwirren, Scheinwerfer aufstellen und einem alten, zahnlosen Inuit einen Hering hinhalten würden mit dem Befehl: »Du rohen Fisch essen!« Ach ja, wie oft musste ich Wolpers an solchen Szenen hindern... um dann selber den Fisch hinzuhalten, freilich mit einer viel höflicheren Formulierung. (»Würden Sie bitte den Zuschauern zu Hause auf dem Bildschirm ein Beispiel für die traditionelle Inuit-Esskultur liefern?«)
    Ich wiederum hatte Angst, er würde uns im Rausch des Wissens einen dieser stundenlangen Tänze vorführen, die das Leben der Inuit erzählen — und ich hasse es, wenn in meiner Wohnung getanzt wird. Oder gar einen Schamanentanz, der in der Geisterkultur der Inuit eine wichtige soziale Funktion einnimmt: Mit Spottgesängen und — tänzen wurden Konflikte gelöst, Übeltäter durch solche Tänze gedemütigt — ein Ritus also, den ich durchaus zu fürchten hatte. Aber zum Glück hatte er die Kulttrommel nicht dabei, dieses unerlässliche Schamanengerät mit einer Walrossblase als Trommelfell, das zwischendurch ständig befeuchtet werden muss, das haben Blasen so an sich. Außerdem war ja Doris anwesend, und im Beisein von Frauen finden fast nirgendwo Männer-Kulttänze statt, schon gar nicht in meiner Wohnung.
    Doris kicherte jedesmal, wenn sie mich ansah, wie eine Inuit-Geschworene bei der Verkündung des Spott-Urteils, und ich hatte wirklich Angst. Denn noch mehr als vor Kulttänzen fürchtete ich mich davor, er würde mich zu einer Runde Katajjak auffordern, dem grunzenden Kehlkopfgesang vermittels Austausch von Mundgeruch. Aber dazu kam es auch nicht. Ich vermute, dass er mich zu sehr hasste. Zum Glück. Ich habe trotzdem eine Menge gelernt. Zum Beispiel, dass die Inuit niemals in Iglus lebten; diese Eisblock-Höhlen waren reine Vorratskammern. Und dass sie bei der Robbenjagd selber zu Robben werden: Auf den Knien rutschen sie langsam an Tiere ran, die sich gerade auf einer Eisscholle ausruhen, und kratzen dabei ständig mit aufmontierten Seehundkrallen am Eis; dadurch entsteht das typische Geräusch, als arbeite eine Robbe an einem Eisloch — das anvisierte Tier denkt daher, ein Artgenosse nähere sich, und gewöhnlich ist es dann sein letzter Gedanke.
    Ich habe ferner gelernt, dass den Inuit das Töten von Tieren keineswegs als unfreundlicher Akt erscheint. Nach ihrer Überlieferung lassen sich nämlich Fisch und Bär freiwillig fangen und sind stolz, dem Menschen als Nahrung und Gerätschaft zu dienen — wir essen ja auch lieber »glückliche Hühner«, und in den Schaufenstern unserer Metzger lachen Schweine mit Messern im Rücken. Hatten die Inuit einen Eisbären erlegt, hießen sie ihn zu Hause als Gast willkommen, empfingen ihn mit einer Festrede und setzten ihn einen Tag lang auf einen Ehrenplatz in die gute Stube. Erst dann wurde er verspeist. Und wenn sie Wale in der Gegend vermuteten, hatten die Inuit eine ganz besondere Art, sie auszuspähen: Da es auf den zugefrorenen Buchten keine Erhöhung gab, um Ausschau aufs offene Meer zu halten, wurde ein Kundschafter mit einer Art Sprungtuch in die Höhe geworfen. Zwanzig bis dreißig Mann spannten das Tuch, und wie auf einem Trampolin gewann der Späher bei jedem Sprung mehr Höhe. Lebenswichtig war nun, dass er erst »Wale!« schrie, wenn er wieder unten auf der Decke gelandet war; tat er es bereits oben in der Luft, konnte es leicht passieren, dass die Fängermannschaft voller Jagdeifer zu den Booten rannte und den vergessenen Springer ins Eis krachen

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