Feuersteins Reisen
Bibel in die Inuit-Sprache. Sie wohnen, wie ihre Nachbarn auch, in einem gut isolierten Blockhaus, natürlich ohne Keller (so was gibt’s in der Permafrost-Zone nicht, da stehen alle Häuser auf Stelzen, damit sie nicht durch ihre Wärme den eisigen Untergrund auftauen lassen und nach und nach darin versinken — bis zu 600 Meter dick ist der Eispanzer). Dafür haben sie ein Klavier, und hin und wieder gibt’s selbstgemachte Spätzle, an denen Frau Seiler nur vermisst, dass sie mit Rentierfleisch lang nicht so gut schmecken wie mit Schmorbraten. Spezielle Neonleuchten mit »Sonnenlichtwirkung« helfen, den Polarwinter, wenn es ab der zweiten Dezemberwoche einen Monat lang überhaupt nicht mehr hell wird, einigermaßen unangefochten zu überstehen. Zusätzlich hilft dabei gewiss auch der Job, der Anfechtungen sowieso ausschließt. Dicke Manuskriptstapel künden vom Fortgang der Arbeit, aber ein Ende ist bei weitem nicht abzusehen. Die Bibel ist eben ein Lebenswerk, weiß man ja schon seit Tausenden von Jahren. Was sind da fünfundzwanzig?
Mein altes Lexikon, das von politischer Korrektheit noch keine Ahnung hat, spricht ungeniert von den »Eskimosprachen« und ordnet sie der polysynthetischen Gruppe zu. Ein Polysyndeton, das wissen wir älteren Romantiker aus der Zeit, als wir den Mädels statt E-Mails noch Gedichte schickten, ist die Aneinanderreihung von Begriffen mit Hilfe von Bindewörtern (»Und es wallet und siedet und brauset und zischt«), »Polysynthetisch« ist im Prinzip dasselbe, aber ohne Bindewörter und auf die gesamte Sprache bezogen: Alle bedeutungstragenden Teile einer Botschaft werden vereinigt, so dass schließlich ein einziges, riesiges, zusammengesetztes Wort entsteht, das oft den Inhalt eines kompletten Satzes trägt. »Ich habe Halsweh und gehe heute nicht ins Büro« würde inuitgerecht lauten: »Halsschmerzbüroabwesenheitsgrund«... oder so ähnlich. Polysynthetische Sprachen, zu denen übrigens auch die meisten Indianersprachen gehören, sind demnach das genaue Gegenteil der »isolierenden« Sprachen wie zum Beispiel das klassische Chinesisch mit seiner Aneinanderreihung unveränderbarer einsilbiger Wörter. (Und weil ich gerade beim Dozieren bin - vorhin hatte ich Sie ja schon vor diesem inneren Zwang gewarnt —: Deutsch wie überhaupt alle indogermanischen und semitischen Sprachen gehören zur »flektierenden« Familie. Danke, setzen.)
In den Inuit-Zeitungen findet man wahre Wortmonster, selten reicht eine einzige Zeile für ein Wort aus. Wer mit der SAS ins grönländische Kangerlussuaq fliegt, kann dies schon auf der Speisekarte nachprüfen (aber nur in der Business Class, bitteschön): Wir Flektierenden kriegen Pork Roast, Schweinebraten, angeboten, für die Polysynthetiker heißt das Puulukliptartunaatamarmiutillugusiataq. Wahrscheinlich steckt in diesem Wort nicht nur der Braten und das Schwein, sondern auch das Rezept für die Zubereitung und die Geschichte der Schweinezucht. Kein Wunder, dass ich in ganz Alaska kein einziges Inuit-Restaurant fand — welcher Ober möchte so eine Bestellung aufschreiben? (Stattdessen fand ich — so klein ist wieder mal die Welt — ausgerechnet hier in Kotzebue mit seinen dreitausend Einwohnern einen China-Imbiss, dessen Serviererin mal eine ganze Nacht lang im Schlosspark von Brühl eingeschlossen war, also nicht mal fünf Minuten von meiner Wohnung entfernt, weil sie nicht ahnte, dass so ein Park in Deutschland nachts abgesperrt wird. In Alaska bleibt die Tundra nämlich Tag und Nacht geöffnet.)
Ein Inuit-Lehnwort haben wir auch im Deutschen: Kajak. Original schreibt man es Qaajaq, das Schluss-q ist ein Klicklaut, nicht so knallig wie bei den Hottentotten, mehr kehlig. Viele Wörter enden damit. Auch die Seiler-Bibel?
»Im Anfang war das Wort«, beginnt das Johannes-Evangelium. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass dieses gleiche Wort am Schluss immer noch da ist, nur ein bisschen länger geworden, mit dem gesamten Evangeliumstext als Inhalt. Kein Wunder, dass die Seilers schon fünfundzwanzig Jahre daran arbeiten, denn es kommen ja noch die drei anderen Evangelien dazu und das gesamte Alte Testament, bis das endgültige Wort auch wirklich komplett beisammen ist. Aber ich bin sicher, sie schaffen es, mit oder ohne Klicklaut am Ende. Hoffentlich kommen sie dann nicht auf die Idee, es mir zu faxen.
Bärenland
Ich bin mit der Wollust der Disziplin gesegnet: Ich bin beharrlich und ausdauernd, scheue nicht Schwierigkeiten auf dem Weg zum
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