Feuersteins Reisen
ließ.
Während ich lernte, hatte Wolpers mehrmals das Gespräch auf das Thema »Frauenverleih« lenken wollen, aber der Wissenschaftler ging nicht darauf ein. Zu Recht, denn in unserer übersexualisierten Gesellschaft wird dieser Brauch gründlich missverstanden. Tatsächlich war es in vielen Inuit-Kulturen Tradition, dass der Hausherr seinem Gast die Ehefrau oder Tochter ins Nachtlager mitgab. Aber das hatte keine erotischen, sondern erbbiologische Gründe, denn bei den winzigen, weit voneinander entfernten Dorfgemeinschaften war die Inzuchtgefahr enorm, da war es wichtig, jede Gelegenheit zur genetischen Auffrischung wahrzunehmen. Der »Frauenverleih« der Inuit hatte also nichts mit Geilheit zu tun, er war weder Partnertausch noch die Keimzelle der Swinger Clubs, sondern schlichte Dankbarkeit für erwiesene Gastfreundschaft: Bei uns bringt man der Hausfrau einen Strauß Blumen mit, dort ließ man ihr seine Gene da. Aber das ist Vergangenheit. Wolpers musste seine Gene alle wieder mitnehmen.
In diesem Zusammenhang gleich noch ein klärendes Wort zum »Katajjak«. Auch bei diesem so seltsam anmutenden Männergesang hatte die Einsamkeit der Eiswüste Pate gestanden. Denn im Unterschied zu unserer gewohnten drangvollen Enge, wo man beim Anblick von Fremden instinktiv zur Gaspistole greift, gilt in der Leere des hohen Nordens JEDE Begegnung als eine glückliche. Bei einer Besiedlungsdichte von einem halben Menschen pro Quadratkilometer freut man sich ganz einfach, auf seinem tausend mal tausend Meter großen Revier eine zweite Hälfte begrüßen zu können, damit — statistisch gesehen — endlich einmal ein GANZER Mensch anwesend ist, und sei es nur vorübergehend. In der Tradition der Inuit war der Fremde nie eine Bedrohung, sondern immer ein Freund, vielleicht sogar Lebensretter. Da kam man sich gerne auch körperlich nah und tauschte das Wichtigste, was es gab: den Atem des Lebens. Deshalb meine Abbitte: Was ich vorhin über den Mundgeruch sagte, war nichts als mein ewiger Zwang, Kalauer zu produzieren. Es war auf keinen Fall wertend gemeint—schon gar nicht von einem wie mir, der schon zum Frühstück liebend gern in Knoblauchöl eingelegten Schafskäse nascht.
Von dem Wissenschaftler lernten wir auch, dass Alaska, der größte Flächenstaat der Vereinigten Staaten mit insgesamt aber deutlich weniger als einer Million Einwohner, ursprünglich keineswegs allein den Inuit gehörte, sondern zu mehr als der Hälfte Indianerland war: Im zentralen Bergland leben noch heute die nomadischen Athabasker und an der südwestlichen Küste, entlang des Pfannenstiels, die Tlingit und Haida. Dazu noch die Reste der Aleuten-Kultur mit ihren geheimnisvollen Masken, von denen niemand mehr weiß, wozu sie dienten. Weniger als dreitausend Aleu-ten leben heute noch auf den Inseln, die Amerika mit Asien verbinden. Sie waren es übrigens, die Alaska den Namen gaben: »Alyeska«, das große Land.
Das alles erfuhren wir vom Experten und dazu auch noch, wie man diesen Menschen begegnet, wie man Geschenke tauscht, ohne den Stolz zu verletzen, und welche Tabus man beachten muss. Wir waren durchdrungen vom Geist der Forschung und beseelt von der Lust, all diese Theorie in Erfahrungen umzusetzen — aber als wir dann in Alaska angekommen waren, merkten wir schnell: Das war der falsche Weg. Unser Lerneifer war umsonst, wir konnten den Expertenrat niemals anwenden, wir hätten ihn gar nicht erst gebraucht.
Unser Ziel war ja nicht eine geografische Expedition, sondern eine informative Unterhaltungssendung mit möglichst vielen Geschichten und Begegnungen, ganz einfach das Spiegelbild meiner Art des Reisens und kein bisschen mehr. Der Versuch, zu belehren oder gar zu dozieren — bei mir in der Tat ein ganz massiv vorhandenes Bedürfnis — wäre lächerlich und zum Scheitern verurteilt. Ein gutes Beispiel dafür war unser Dreh bei einer archäologischen Grabungsstätte auf der Insel Kodiak.
Junge, gescheite Studenten hatten gerade ein Stück Holz gefunden, im Moorboden konserviert, das als Nachweis für uralte Handelsverbindungen mit Sibirien dienen könnte, und ich redete mich vor der Kamera in Rage, als hätte ich gerade Troja ausgegraben... kann ja sein, dass der Fund für diese Gegend von gleicher Bedeutung war. Als Renaissance-Mensch, als Universalist hätte ich vor ein paar hundert Jahren damit bestens bestehen können, oder als Heinrich Schliemann, der ja auch kein Wissenschaftler war, sondern Kaufmann, bestenfalls Privatgelehrter.
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