Fever Pitch
antisemitischen Gesänge, wenngleich Arsenal genauso viele jüdische Fans hat wie Tottenham, sind widerlich und unverzeihlich, und im Verlauf der letzten paar Jahre ist die Rivalität zwischen den beiden Fangruppen unerträglich haßerfüllt geworden. Wie auch immer, bei einem Pokalspiel ist es anders. Die älteren Dauerkartenbesitzer, jene, die Tottenham zwar hassen, aber nicht mit der sabbernden, gewalttätigen Wut einiger der Zwanzig- und Dreißigjährigen, sind ausreichend motiviert, hinzufahren, und dadurch wird die Gereiztheit etwas gemildert. Und das Ergebnis und der Fußball zählen mehr als in vielen der Ligaspiele zwischen Arsenal und Tottenham – zumal sich beide Teams während der letzten zwanzig oder dreißig Jahre meist im Tabellenmittelfeld wiedergefunden haben –, und das hat zur Folge, daß es etwas gibt, auf das sich die Aggression richten kann. Paradoxerweise ist bei einem bedeutsamen Spiel die Identität der Gegner weniger wichtig.
Auf alle Fälle weiß ich, daß mein gutbürgerliches Zartgefühl nicht übermäßig gestört wurde, und daß es keine gebrüllten Hinweise auf Triebtäter oder Krebserkrankungen gab, die mir die Erinnerung an den Abend verderben. Das Spiel war schnell und offen, genau wie am Sonntag, und einmal mehr schienen wir die gesamte erste Hälfte damit zu verbringen, zuzusehen, wie Clive Allen allein auf das Tor, das sich vor uns befand, zustürmte, und je länger das so ging, desto mehr fürchtete ich um Arsenal. Das Team wurde mit jedem Spiel jünger und jünger (Thomas, im Hinspiel Ersatzmann für Gus Caesar als Außenverteidiger, bestritt sein erstes volles Spiel, und zwar im Mittelfeld), und auch wenn es zur Halbzeit 0:0 stand, traf Allen letztlich, gleich zu Beginn der zweiten Hälfte; kurz darauf wurde Nicholas vom Platz getragen und Ian Allinson mußte rein, ein Arbeitstier, aber kaum der Mann, um das Spiel aus dem Feuer zu reißen – alles war vorbei.
Ein paar Reihen vor mir begann eine Gruppe nebeneinandersitzender Männer und Frauen mittleren Alters, mit Decken über den Beinen und aufblitzenden Thermoskannen voll Suppe, das Irische Lied zu singen, das die älteren Fans auf den Sitzplätzen – ich habe nie eine Interpretation durch die Nordtribüne gehört – oft bei großen Anlässen zu singen pflegten, und jeder, der den Text kannte ( »Und dann stand er auf und sang es erneut / Wieder und wieder und wieder von vorn« ), stimmte ein. Deshalb dachte ich, als vielleicht noch sechs oder sieben Minuten zu spielen waren, daß mir der Anlaß zumindest mit einer gewissen Innigkeit in Erinnerung bleiben würde, auch wenn er einen bitteren, trostlosen Abschluß haben sollte. Und dann gab Allinson, nachdem er nicht gerade überzeugend auf den linken Flügel ausgewichen war, einen schwachen Schuß aus der Drehung ab, der Clemence vollkommen überraschte und schuldbewußt neben dem kurzen Pfosten reintrudelte, und es kam zu einem gewaltigen Ausbruch von Erleichterung und entfesselter Freude. Tottenham war genauso fertig wie am Sonntag: Während der nächsten zwei Minuten fing Hayes einen schlechten Rückpaß ab und schoß ans Außennetz, bahnte sich Thomas mit der Art von Unbekümmertheit, die wir in der Folgezeit lieben und hassen lernen sollten, seinen Weg bis zum Strafraum und schoß knapp am Pfosten vorbei. Auf meinem Video sieht man, daß die Arsenalfans buchstäblich vor Erregung auf und ab springen, als Anderson sich anschickt, einen Einwurf auszuführen. Und es sollte noch besser kommen. Als Tottenhams Digitaluhr bei neunzig Minuten anhielt, nahm Rocky eine ungenaue Flanke auf, ließ sie von der Brust abtropfen und knallte sie an Clemence vorbei ins Netz; fast unmittelbar danach pfiff der Schiedsrichter ab, und die Menschenreihen lösten sich auf und verwandelten sich in einen zitternden Haufen überschwenglicher Menschlichkeit.
Es war der zweite von drei oder vier Momenten beim Fußball in meinem Leben, bei dem mein Delirium dergestalt war, daß ich keine Ahnung hatte, was ich tat, und bei dem für einige Augenblicke die völlige Leere herrschte. Ich weiß, daß ein alter Mann mir um den Hals fiel und nicht loslassen wollte und der Rest des Stadions beinahe leer war, als ich mich wieder in einer Verfassung befand, die man als annähernd normalen Bewußtseinszustand beschreiben könnte. Nur ein paar Tottenhamfans standen noch da und sahen uns zu, zu enttäuscht und betäubt, um sich zu bewegen (vor meinem geistigen Auge sehe ich weiße Gesichter, doch wir
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