Fey 10: Das Seelenglas
1
Pausho sah um Jahre gealtert aus. Gebückt und mit hängendem Kopf schlurfte sie neben Zak einher wie eine Besiegte.
Besiegt von Matthias.
Matthias folgte den beiden. Er verdrängte jedes Gefühl der Schuld, aber auch der Genugtuung. Seit er vor ein paar Tagen davon gehört hatte, sehnte er sich danach, endlich die ursprüngliche Niederschrift der Worte zu Gesicht zu bekommen, aber erst jetzt war es soweit. Er hatte schon befürchtet, die Weisen würden ihm niemals den Zutritt zu dem Gewölbe gestatten.
Aber sie hatten eingewilligt.
Wegen der Fey.
Zak hatte eine Geheimtür in der Wand der Versammlungshalle aufgestoßen, hinter der viele Stufen abwärts in die Finsternis führten. Zak zündete eine Fackel an und hielt sie mit ausgestrecktem Arm vor sich, aber die Flamme verbreitete nur ein schwaches Dämmerlicht.
Die Treppe führte in einen breiten Gang, der aus dem Gestein des Felsens gehauen und frei von Spinnweben und Staub war. Offensichtlich wurde er regelmäßig gefegt. Der Gang erinnerte Matthias an die Katakomben unter dem Tabernakel, und er fragte sich, wozu diese wohl einst gedient hatten.
Dieser Gang hier schien allerdings noch älter zu sein. Die Steine waren uneben und wurden von mehreren Schichten Mörtel zusammengehalten. An manchen Stellen war die oberste Schicht abgeblättert und enthüllte eine ältere.
Dieses Wissen hatten die Weisen von Constantia seit Jahrhunderten gehütet. Jetzt teilten sie es mit einem Langen.
Wieder stieg die Vorfreude in Matthias auf, und er unterdrückte sie mit Mühe. Er durfte sich vor Pausho nichts anmerken lassen. Sonst würde sie das Unternehmen sofort abbrechen, und das durfte Matthias nicht riskieren. Er mußte so rasch wie möglich einen Blick auf die Worte werfen. Er hatte Pausho nicht angelogen. Vielleicht konnte ihm das, was im Gewölbe aufbewahrt wurde, die dringend notwendigen Informationen und Antworten liefern. Sie mußten sich gegen die Fey zur Wehr setzen. Und das hier war womöglich ihre letzte Chance.
Sonst war die Blaue Insel endgültig verloren.
Der Gang schien kein Ende zu nehmen. Das Licht der einzigen Fackel erhellte einen Kreis um Zak. Die Luft wurde feucht und dumpf, und ab und zu glitzerten kleine Pfützen auf dem Steinfußboden. Sie waren schon einige Zeit gegangen, als Matthias auffiel, daß der Fußboden die Farbe gewechselt hatte.
Er war jetzt rot wie der Berg, wie das Gestein, bevor es aus dem Felsen gebrochen wurde.
Sie befanden sich unter den Blutklippen auf dem Weg zu einem Ort, der schon lange vor der Errichtung der Stadt und der Versammlungshalle existiert hatte. Vielleicht sogar schon vor der Gründung des Kreises der Weisen.
Matthias bekam eine Gänsehaut, aber das lag nur zum Teil an der kühlen Luft. Er hatte ein ganz ähnliches Gefühl wie damals auf dem Berg: Er spürte die Anwesenheit einer großen Macht.
Aber diese Macht war noch sehr weit weg.
Pausho drehte sich kein einziges Mal nach ihm um und sagte auch nichts. Sie klammerte sich an Zaks Arm und trottete vor Matthias her. Im Kampf mit den Fey hatte sie ihre letzten Kraftreserven aufgebraucht. Matthias hatte es selbst gesehen, und es hatte ihn wider Willen beeindruckt.
Für Constantia gab Pausho ihr Letztes. Wenn Constantia in Gefahr war, kämpfte sie wie eine Löwin, so sehr fühlte sie sich eins mit ihrer Stadt.
Nie hätte Matthias gedacht, daß Pausho und er einmal Verbündete sein würden, auch nicht gezwungenermaßen. Für ihn war Pausho immer nur der personifizierte Haß gewesen.
Offensichtlich hatte er sich getäuscht.
Irgendwie verstimmte ihn das. Es war leichter gewesen, Pausho abzulehnen und anzunehmen, daß sie alles, einschließlich ihres Versuchs, ihn umzubringen, getan hatte, weil es ihrer durch und durch bösen Natur entsprach, nicht, weil es nach ihrer Auffassung vernünftig war.
Matthias war müde, sämtliche Knochen taten ihm weh. Auch seine Kehle schmerzte immer noch. Er spürte die vertraute Energie nicht mehr, und der unerwartet lange Marsch erschöpfte ihn zusätzlich.
Der Gang führte jetzt nicht mehr abwärts, aber es wurde trotzdem immer kälter. Sie waren jetzt tief unter der Erde. Hier war der Gang nicht mehr aus behauenen Steinen gemauert, sondern Boden, Wände und Decke bestanden aus einem Stück, von Menschenhand oder den Elementen ausgehöhlt. Der Stein war überall rot.
Eine Höhle.
Matthias fragte sich, ob dieser Gang wohl unterirdisch mit jener Höhle verbunden war, die Jewel bewachte. Sie mußte sich unter
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