Fiebertraum
dorthin gehen, wo Julian sich aufhielt, damit er ihm helfen könnte.
Sour Billy biß sich auf die Unterlippe, raffte seine ganze Energie zusammen und versuchte aufzustehen.
Und schrie auf.
Der Schmerz, der seinen Körper durchschnitt, war wie ein glühendes Messer, eine Woge der Pein, die jeden Gedanken, jede Hoffnung und jegliche Angst aus ihm hinausspülte, bis nichts anderes blieb als nur noch Schmerz. Er schrie erneut und blieb reglos liegen. Sein ganzer Körper pulsierte. Sein Herz schlug wild, und der Schmerz flaute allmählich ab. Und in diesem Moment bemerkte Sour Billy, daß er seine Beine nicht mehr spüren konnte. Er versuchte, mit den Zehen zu wackeln. Er fühlte nichts da unten.
Er starb. Es ist nicht gerecht, dachte Sour Billy. Er stand so dicht davor. Dreizehn Jahre lang hatte er Blut getrunken und war stärker und stärker geworden, und jetzt hatte er es fast geschafft. Er würde ewig leben, doch nun nahmen sie ihm alles wieder weg, beraubten ihn, wie sie ihn immer beraubt und betrogen hatten. Niemals hatte er etwas für sich gehabt. Es war alles ein großer Betrug. Die Welt hatte ihn wieder übertölpelt, die Nigger und die Kreolen und die reichen Dandies, sie hauten ihn übers Ohr und lachten ihn aus, und nun betrogen sie ihn um sein Leben, um seine Rache, um alles.
Er mußte Julian erreichen. Wenn er die Verwandlung schaffte, dann wäre alles wieder in Ordnung. Ansonsten würde er hier sterben, und sie würden ihn erneut auslachen. Sie würden ihn einen Narren nennen, Abschaum, Niggerdreck, und sie würden auf sein Grab pinkeln. Er mußte zu Mister Julian. Dann wäre er derjenige, der lachte, ja, das würde er tun, lachen.
Sour Billy holte tief Luft. Er spürte das Messer, das er noch immer in der Hand hielt. Er bewegte den Arm, steckte sich das Messer in den Mund, zwischen die Zähne. Er zitterte. So! Das tat nicht mehr so furchtbar weh. Seine Arme waren noch in Ordnung. Seine Finger tasteten über den Boden und suchten nach einem Widerstand unter dem Moder und dem Blut. Dann zog er mit aller Kraft und rutschte vorwärts. Die Brust brannte ihm, der Schmerz tobte in den Eingeweiden, die Messerklinge verrichtete ihr furchtbares Werk in ihm. Er blieb erschöpft liegen. Aber als der Schmerz etwas abebbte, öffnete Sour Billy die Augen und lächelte. Er hatte sich bewegt! Er hatte sich fast einen halben Meter vorwärts gezogen. Noch fünf - oder sechsmal das gleiche, und er hätte die Treppe erreicht. Dann könnte er sich an dem reichverzierten Geländerbalken abstützen und sich nach oben ziehen. Denn von dort drangen die Stimmen zu ihm. Er würde zu ihnen gelangen. Er wußte, daß er es schaffen könnte. Er mußte es einfach schaffen.
Sour Billy Tipton streckte die Arme aus, grub die langen Fingernägel ins Holz, und die Zähne bissen hart auf die Messerklinge.
KAPITEL VIERUNDDREISSIG
An Bord des Raddampfers Fiebertraum Mai 1870
D ie Stunden vergingen in Stille, in einer Stille, die von Angst geprägt war.
Abner Marsh saß dicht bei Damon Julian, hatte den Rücken gegen die schwarze Marmorbar gelehnt, schonte den gebrochenen Arm und schwitzte. Julian hatte ihm schließlich gestattet, sich aus seiner unbequemen Lage auf dem Bauch aufzurichten, als die Schmerzen im Arm für Marsh zuviel wurden und er zu stöhnen begann. In dieser Haltung schienen die Schmerzen nicht so schlimm zu sein, aber er wußte, daß die Qualen sofort wieder anfangen würden, wenn er sich zu bewegen versuchte. Daher saß Marsh sehr still da, hielt den Arm fest und dachte nach.
Marsh war nie ein besonders guter Schachspieler gewesen, wie Jonathon Jeffers es ihm ein halbes dutzendmal bewiesen hatte. Manchmal vergaß er sogar von Spiel zu Spiel, wie die verdammten Figuren zogen. Doch sogar jetzt wußte er genug, um ein Patt zu erkennen.
Joshua York saß steif in seinem Sessel, die Augen auf diese Entfernung dunkel und undeutbar, den ganzen Körper angespannt. Die Sonne hämmerte auf ihn herab, zerstörte sein Leben, verbrannte seine Kraft, wie sie morgens auch die Flußnebel zu verbrennen pflegte. Er bewegte sich nicht. Wegen Marsh. Denn Joshua wußte, wenn er angreifen sollte, würde Abner Marsh an seinem eigenen Blut ersticken, ehe er Julian erreicht hätte. Vielleicht könnte Joshua Damon Julian dann endgültig töten, aber das würde für Marsh keinen Unterschied mehr machen.
Julian befand sich auch in einer Pattsituation. Wenn er Marsh tötete, verlöre er seinen Schutz. Dann brauchte Joshua keine
Weitere Kostenlose Bücher