Final Cut - Etzold, V: Final Cut
er täglich ausgesetzt war.
»Es gibt Menschen, die so verlassen und vergessen sind«, fuhr von Weinstein fort, »dass sich niemand mehr um sie kümmert und die monate-, sogar jahrelang in ihrer Wohnung liegen, bis jemand sie findet.« Er musste die Stimme heben, da der Sektionsassistent damit begonnen hatte, den Kopf der Frau aufzusägen. Er hatte vorher die Schädeldecke aufgeschnitten und die Kopfhaut der Leiche über das Gesicht gezogen, um den Schädelknochen freizulegen. Jetzt war die Schädelhöhle geöffnet, und der Assistent förderte die handtellergroßen Reste des Gehirns zutage, legte sie in eine Schale und stellte diese dann auf eine Präzisionswaage. Nur noch fünfhundert Gramm.
»Danke«, sagte von Weinstein zu dem Assistenten, »wir kommen gleich darauf.« Er blickte Winterfeld und Clara an, die schaudernd das zerbröselnde Etwas betrachteten, das einmal das Leben und Denken von Jasmin Peters bestimmt hatte.
»Normalerweise«, fuhr von Weinstein fort, »handelt es sich dabei um extreme Fälle sozialer Isolation. Menschen, die durch eine Scheidung oder den Verlust eines geliebten Menschen abgestürzt sind, die abhängig wurden von Alkohol oder Medikamenten und ohne soziale Kontakte vor sich hin vegetieren.« Er verstummte und blätterte im Bericht der Spurensuche.
Winterfeld schaute auf die Uhr. Clara wusste, dass von Weinstein dazu neigte, Dinge oft umständlich zu erklären und nicht sofort auf den Punkt zu kommen. Aber Winterfeld war manchmal nicht anders; vielleicht störte ihn diese Unart bei von Weinstein deshalb umso mehr.
»Zur Sache, Herr Kollege«, sagte Winterfeld. »Wir haben es hier mit einem Mord zu tun, nicht wahr? Besonders vor dem Hintergrund der Videoaufnahme.«
»In der Tat«, sagte von Weinstein und nickte. »Die Schnittverletzung hier«, er zeigte mit dem Skalpell auf den Hals der Frau, »und die Darstellung des Mordes auf der CD stimmen zu hundert Prozent überein. Ungewöhnlich aber ist«, er ging um den Tisch herum, »dass hier offenbar ein Mörder den Prozess der Mumifizierung benutzt hat, um den Verwesungsgeruch zu vermeiden, der in der Regel dazu führt, dass Leichen gefunden werden.« Von Weinstein schnüffelte zur Verdeutlichung seiner Worte. »Leichen riechen, Mumien nicht.«
»Das letzte Kalenderblatt in der Wohnung war vom zehnten März«, sagte Clara. »Könnte der Mord an diesem Tag verübt worden sein?«
»Möglich«, sagte von Weinstein. »Die Käfer hatten auf diese Weise ausreichend Zeit, sämtliche Feuchtigkeit aus dem Körper zu extrahieren. Der Täter«, er zeigte auf das vertrocknete Gehirn, das noch immer in der Metallschale auf der Waage lag, »hat dem Opfer sogar Löcher in die Schädeldecke gebohrt, damit die Käfer auch das Gehirn dehydrieren konnten.«
»Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen«, sagte Clara. »Normalerweise trifft es vereinsamte und kranke Menschen, die nach ihrem Tod niemand entdeckt, weil ihre Leichen auf natürliche Weise vertrocknen – zum Beispiel, weil sie nahe am Heizkörper liegen und die Körper durch Insektenfraß sämtliche Feuchtigkeit verlieren, sodass die Leiche nicht riecht.«
»So ist es«, sagte von Weinstein und blickte Winterfeld an. »Erinnern Sie sich noch an den siebzigjährigen Säufer im letzten Jahr?«
Winterfeld nickte.
»Das Fenster zu seiner Wohnung«, fuhr von Weinstein fort, »war monatelang geöffnet, und das im tiefsten Winter, ohne dass jemand es bemerkt hätte. Selbst das Radio dudelte wochenlang vor sich hin – so lange, bis die Stadtwerke den Strom abstellten, weil die Rechnungen nicht bezahlt wurden. Die Miete hingegen ging per Lastschrift ein und war durch die Renteneingänge gedeckt, sodass der Vermieter sich nichts dachte.«
»Der Traum eines jeden Vermieters«, sagte Winterfeld, »ein sehr ruhiger Bewohner, der pünktlich zahlt.«
Clara blickte ihn ein wenig strafend an.
»Tierlieb war unser Mieter auch«, sagte von Weinstein, als wollte er auf Winterfelds geschmacklosen Scherz noch einen draufsetzen.
So sind Männer halt, dachte Clara. Frauen weinen sich bei ihrer besten Freundin aus, Männer versuchen den Schrecken mit dummen Witzen zu kompensieren.
»Tauben und andere Vögel konnten durch das offene Fenster in die Wohnung«, fuhr von Weinstein fort. »Der Boden war vollständig mit Vogelkot bedeckt. Wissen Sie noch?«
Winterfeld nickte. »War kein besonders erfreulicher Anblick.«
Von Weinstein nickte, scheinbar erfreut über Winterfelds Unbehagen. »Irgendwo in diesem Pfuhl
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