Finnisches Inferno: Kriminalroman (Arto Ratamo ermittelt) (German Edition)
Arbeit redeten sie nie.
Der Ålvados schmeckte überraschend weich. Durch den Apfelschnaps zirkulierte das Blut schneller, die wohltuende Wärme entspannte die Muskeln, und Ratamos Appetit auf Tabak nahm zu. Er holte aus dem Kühlschrank eine Dose mit gewürztem Kautabak der Marke »General«, schob zwei der kleinen Röllchen unter die Oberlippe und ließ sich in den Biedermeiersessel fallen, den er eine Woche zuvor bei einer Versteigerung erworben hatte. Die Federn gaben nach, die Beine wackelten, und eine Staubwolke stieg auf. In der Stube hing der Geruch vergangener Jahrzehnte.
Kurz nach dem Tod seiner Frau hatte Ratamo eine Dreizimmerwohnung in der Korkeavuorenkatu gekauft, nur ein paar hundert Meter entfernt von seinem früheren Zuhause, mit dem so schreckliche Erinnerungen verbunden waren. Die vertraute Gegend hatte er aber trotzdem nicht verlassen wollen. Vom Erlös des Verkaufs der alten Wohnung war auch noch Geld für die Ausstattung der neuen übrig geblieben. Die von einem Freund Kaisas entworfene moderne minimalistische Inneneinrichtung war Ratamo immer zuwider gewesen, deshalb hatte er sich ernsthaft und intensiv bemüht, das neue Zuhause nach seinem Geschmack einzurichten. Als allererstes hatte er sich ins Bad eine kleine Sauna einbauen lassen und für die Küche einen zweiteiligen Weintemperierschrank angeschafft. Die bei Versteigerungen gekauften Möbelstücke und Dekorationsgegenstände überall in der Wohnung waren alle sehr eigentümlich und in schlechtem Zustand, und sie passten zusammen wie Grießbrei und saure Gurke.
Als die Geige besonders laut kreischte, schreckte Ratamoaus seinen Gedanken auf. Nelli zähmte ihr Instrument mit solch bewundernswerter Energie, dass Ratamo beschloss, eine CD von J. J. Cale aufzulegen.
Die Gipsbüsten von Lenin und Elvis, die er im Antiquitätenkeller »Holzwerkstatt« gefunden hatte, starrten einander auf dem Fensterbrett an. Ratamo bekam immer gute Laune, wenn er sie betrachtete. Der Ruhm der Legenden war unsterblich, und beide waren von Millionen Menschen verehrt worden. Er fand die zwei Gestalten irgendwie amüsant: Der eine hatte die Massen durch seine Reden in einen Rausch versetzt, der andere durch seinen Gesang. Ratamos Ansicht nach war Elvis der größere von beiden: Er hatte seinen Anhängern Freude geschenkt.
Wie aus dem Nichts tauchte Nelli vor ihm auf und unterbrach seine Gedanken. Sie runzelte die Stirn und schaute ihn mit enttäuschter Miene an.
»Eine Saite ist gerissen!« Ratamo nahm sie in den Arm und kitzelte Nellis Wange mit seinen pechschwarzen Bartstoppeln. »Die wechseln wir morgen früh. Jetzt werden die Zähne geputzt.«
MITTWOCH
4
Der Beratungsraum A 310 war der sicherste Ort im Hauptgebäude der SUPO in der Ratakatu 12. Er konnte nicht mit elektronischen Mitteln ausspioniert werden. Fußboden, Decke und Wände des fensterlosen Raumes waren mit schalldämmendem Kunstfasermaterial laminiert, darunter lagen drei Korkplattenschichten mit Kupferblech und dann noch eine dicke Betonplatte. Das Pfeifen und Rauschen der Heizkörper hörte man aber trotzdem. Die Zentralheizung arbeitete auf Hochtouren, denn die Außentemperatur betrug achtzehn Grad minus.
In A 310 saßen drei erschöpfte Polizisten und warteten schweigend auf ihren Chef Jussi Ketonen. Der ovale Beratungstisch war vollgepackt mit Unterlagen. Die Besprechung sollte um zehn beginnen, aber es war schon fast viertel elf.
Am Montagabend hatte das FBI der finnischen Kriminalpolizei mitgeteilt, dass man in Miami die Leiche eines in Finnland wohnhaften russischen Sicherheitsberaters gefunden hatte. Am Körper des Toten waren mit Klebeband Dokumente des finnischen Spitzentechnologieunternehmens DataNorth AG befestigt gewesen. Das Unternehmen war das größte europäische Softwarehouse, ein Vorreiter auf dem Gebiet der Softwareentwicklung für das Internet, und trotz der Rezession in der Branche leuchtete sein Stern hell am Himmel des HEX-Tech, des Technologieindexes der Börse von Helsinki, und der New Yorker Technologiebörse Nasdaq. Der Chef der Kriminalpolizei hatte sofort Verbindung zu Ketonen aufgenommen,denn es war eine der Hauptaufgaben der Sicherheitspolizei, Industriespionage gegen finnische Unternehmen zu verhindern. Auch die Feststellung und Abwehr von Gefährdungen und Verletzungen des Datenschutzes in der Internet-Kommunikation gehörten zum Aufgabenbereich der SUPO.
Ketonen hatte am Montagabend seinem Stellvertreter Erik Wrede befohlen, eine Gruppe von
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