Finnisches Requiem
Genauer gesagt, Riitta hatte sich vorbereitet. Manchmal wunderte sich Ratamo, wie fanatisch Riitta allesanging, was sie für wichtig hielt. Seine Partnerin nahm das Leben ein wenig zu ernst. So wie er früher. Damals hatte er alles, was er tat, als Pflicht empfunden und das Leben als Wettlauf von einer Aufgabe zur nächsten betrachtet.
Ratamo mußte laut lachen, ihm fiel plötzlich ein, was Riittas Freundin Elina erzählt hatte. Mit vier Jahren war Riitta Vegetarierin geworden, nachdem sie auf dem Lande gesehen hatte, wie einem Huhn der Kopf abgehackt wurde. Sie hatte damals ihre Entscheidung getroffen und bis heute daran festgehalten. Allerdings behauptete Riitta, der Grund sei ein Dokumentarfilm gewesen, in dem gezeigt wurde, daß Schafe in den nicht belüfteten Containern eines LKWs an Hitzschlag gestorben waren und Hühnerküken der Schnabel gebrochen wurde, damit sie sich in den engen Käfigen nicht gegenseitig tothackten.
In den acht Monaten ihrer Beziehung hatte sich herausgestellt, daß Riitta eine verblüffend willensstarke Frau war. Manchmal hatte er Angst, daß ein endgültiger Zusammenstoß ihrer beiden Egos unvermeidlich bevorstand. Kompromisse kamen für ihn nicht in Frage, und Riittas südländisches Blut, das sie von ihrer italienischen Mutter geerbt hatte, geriet leicht in Wallung.
Plötzlich spürte er einen schneidenden Schmerz im Bauch: Das Getränk brachte seinen Magen durcheinander. Schnell kamen andere Beschwerden hinzu; erst wurden seine Beine noch steifer, und dann packte ihn ein Krampf der Rückenmuskulatur. Er beugte sich nach hinten, wechselte vom Straßenbelag auf den Randstreifen und trabte mit langen Schritten weiter wie ein Elch in der Brunftzeit. Auf dem Sand wurden die Beine weniger beansprucht als auf dem Asphalt. Er mußte unbedingt vor Riitta bleiben.
Allmählich gelang es ihm, die Schmerzen zu verdrängen, und er vertiefte sich wieder in seine Gedanken. Ob er und Riitta schon im November Winterurlaub nehmen könnten?Sie hatten den ganzen Sommer geschuftet. Riitta schrieb ihre Examensarbeit, und er war mit der Rolle als alleinerziehender Vater eines Mädchens in der zweiten Klasse und mit seinem Studium an der Polizeifachhochschule ausgelastet. Im Laufe des Sommers hatte er das Grundstudium für den gehobenen Dienst absolviert und das Aufbaustudium in den Studienabschnitten Kriminologie und Rechtssoziologie begonnen. Er staunte, wie schnell er sich an das Studium und die Tätigkeit in der Sicherheitspolizei gewöhnt hatte. An seine frühere Arbeit als Forscher dachte er nur noch selten, und die neue Arbeit als Ermittler der Sicherheitspolizei war für ihn nichts Besonderes mehr. Leider gewöhnte man sich an Gutes zu schnell.
Seine Gedankengänge wurden wieder von Schmerzen unterbrochen. Er konzentrierte sich auf das Laufen, und so gelang es ihm, der Versuchung zu widerstehen, ein paar Schritte zu gehen. Dann erblickte er das Schild »39,2 KILOMETER« und den letzten Versorgungspunkt. Die nächsten Kilometer waren die härtesten und zehrten am meisten an der Substanz: Eigentlich war es fast geschafft, aber trotzdem mußte man sich zwingen weiterzulaufen, obwohl die Muskeln so schmerzten, daß man hätte schreien können.
Ratamo trank vorsichtig einen halben Becher isotonischen Getränks mit Apfelsinengeschmack und stopfte sich ein paar Rosinen in den Mund. Da half kein Jammern, die Schmerzen waren die Strafe für seine Dummheit. Er hatte sich auf dieses Spiel eingelassen, obgleich er genau wußte, daß kam, was kommen mußte, schließlich war er in den neunziger Jahren dreimal einen Marathon gelaufen. Nur ein Dummkopf konnte vergessen, welche Qual zweiundvierzig Kilometer und einhundertfünfundneunzig Meter bedeuteten, wenn man nicht richtig trainiert hatte.
»Hopp, hopp, junger Mann!« Ein rüstiger Opa feuerte ihnan und trabte locker und in gleichmäßigem Rhythmus vorbei. Ratamo schwenkte seinen Becher und antwortete keuchend: »Ich würde ja schneller laufen, aber dann fallen die Eiswürfel raus.«
Endlich tauchte der Sportplatz von Joutseno auf. Die Versuchung, das Tempo zu drosseln, war so stark, daß ihm schwindlig wurde, aber die Gruppe hinter ihm hatte zum Endspurt angesetzt und kam immer näher. Riitta könnte dabei sein. Er mußte die Zähne zusammenbeißen.
Noch eine qualvolle Runde auf dem Sportplatz, dann lag die Zielgerade vor ihm, und Ratamo spürte Freude. Man hatte etwas geschafft, das vollkommen unsinnig war und merkwürdigerweise trotzdem Befriedigung
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