Finnisches Requiem
tat ihm weh, und beim Atmen spürte er ein Stechen. Am liebsten hätte er sich auf den Asphalt fallen lassen, aber er mußte weiterlaufen. Durch energischen Armeinsatz versuchte er sein Tempo zu erhöhen, damit man ihn nicht einholte. Seine schweißnassen Sachen wogen mindestens eine Tonne, er dampfte in der herbstlichen Kälte wie ein Feuerwehrmann, der gerade aus dem Rauch auftauchte. Er hatte das Gefühl, er könne jeden Moment tot umfallen.
Jetzt bereute es Ratamo, daß er sich nicht intensiver auf den Marathon vorbereitet hatte. Anders als Riitta, seine Lebensgefährtin, quälte er sich lieber einmal ein paar Stunden, statt täglich eine halbe Stunde zu trainieren. Er hatte sich zu diesem Irrsinn überreden lassen, um den Pavarottispeck auf seinen Hüften loszuwerden. Da alle Bekannten und seineKollegen von der SUPO wußten, daß er den Marathon laufen würde, hatte er nicht gewagt abzusagen. Das unregelmäßige Training war allerdings nicht umsonst gewesen: Er hatte über zehn Kilo abgenommen und sah nun schon genauso schlank aus wie als Gymnasiast. So dürr wie die Lauffanatiker, die an ihm vorbeirannten, würde er allerdings nie werden. Dieser Typ ähnelt auch einem magersüchtigen Aal, dachte Ratamo verärgert, als wieder einer seiner Konkurrenten leichten Schritts an ihm vorbeizog.
Aufgeben kam nicht in Frage, das ließen sein Stolz und sein Kampfgeist nicht zu, also lief er verbissen weiter. Er mußte unbedingt vor Riitta ins Ziel kommen. Wenn er dieses Duell verlor, würden die Kollegen noch bis zum Tag des Jüngsten Gerichts Witze darüber reißen. Er quälte sich einen steilen Anstieg hinauf und brach oben fast zusammen, als er das Schild sah, auf dem in Großbuchstaben zu lesen war: »30,3 KILOMETER.« Noch mehr als zehntausend Meter! Am Fuße des Hügels erblickte er eine Menschentraube, endlich ein Versorgungspunkt.
Ratamo trank gierig etwa zwei Deziliter isotonischen Getränks, stopfte sich ein Stück Fruchtzucker und zwei Scheiben Salzgurke in den Mund und schüttete sich einen Becher Wasser über den Kopf. Er fuhr mit der Hand durch seine dunklen Bürstenhaare, wischte den Großteil der Flüssigkeit weg und lief mühsam weiter. Die Schmerzen ließen ein wenig nach, aber er hatte schon Angst vor der nächsten Attacke, denn jede neue Schmerzwelle, die ihn überrollte, war heftiger als die vorhergehende. Das Trainingshemd mit dem Aufdruck »MOTOR« aus seiner Zeit als Eishockeyspieler bei den Junioren saugte den Schweiß aus dem Unterhemd auf wie ein Schwamm.
Schweiß floß in seine dichten Augenbrauen und brannte in den Augen und in der alten Narbe auf der Wange. Er kniff die Augen zusammen und schaute dann auf den Saimaa-See, derin der Herbstsonne glitzerte. Hier müßte man die Landschaft genießen und in die Sauna gehen, statt sich zu schinden wie ein Idiot. Er spürte den frischen Duft des Waldes und hatte einen salzigen Geschmack im Mund.
Die Straße machte einen Bogen, hinter dem Hügel tauchte ein schönes Bauernhaus auf. Von dessen Hof hatte man sicher einen wunderbaren Blick auf den Saimaa-See. Das rotocker gestrichene Blockhaus erinnerte ihn an den Bauernhof seiner Mutter in Suviniemi. Dort hatte er die Sommer seiner Kindheit verbracht, bis seine Mutter starb. Danach wollte sein Vater von dem ganzen Ort nichts mehr wissen. Als Erwachsener hatte Ratamo auf der Durchreise einige Male in Suviniemi haltgemacht, um sich alles anzuschauen und seine Erinnerungen aufzufrischen. Das hätte er nicht tun sollen. Fast alle kleinen Bauernhöfe waren aufgegeben worden; nur verfallene Ställe und brachliegende Äcker erinnerten noch daran, daß es hier einst weidendes Vieh und wogende Getreidefelder gegeben hatte. Um ihre Post abzuholen, mußten die Menschen kilometerweit fahren, der längst geschlossene Dorfladen würde irgendwann einstürzen, und ein Büchereiauto oder ein Laden auf Rädern waren weit und breit ebensowenig zu sehen wie Aushänge mit den Zeiten des Schwimmunterrichts für die Kinder.
Ratamo stellte sich vor, wie es wäre, auf dem Lande zu wohnen, und brachte so mehrere Kilometer hinter sich. Der Herbst zeigte sich in seiner schönsten Farbenpracht. Die Laubbäume leuchteten in allen möglichen Nuancen von Gelb, Orange und Rot. Gab es eigentlich in Südkarelien mehr Birken als anderswo in Finnland?
Der Termin des Kullervo-Marathons von Joutseno, der 21. September, hatte ihm und Riitta gut gepaßt. Nach ihrem Sommerurlaub war genug Zeit geblieben, sich auf den Lauf vorzubereiten.
Weitere Kostenlose Bücher