Die Nacht am See
1. KAPITEL
Auf ein Neues, dachte Jocelyn Mackenzie, während sie ihrem Auftraggeber aus dem getäfelten Fahrstuhl durch die Marmorhalle zur Doppeltür des vornehmen Chicagoer Penthouses folgte. Nach einem Blick auf den Kristallleuchter und die moderne Stahlskulptur an der Wand überkam sie das vertraute Gefühl der Ehrfurcht.
Dabei hatte sie schon diverse exklusive Penthäuser und Villen gesehen, denn dort übernahm sie üblicherweise ihre Aufträge als Leibwächterin. Normalbürger konnten sich nämlich ihre Dienste gar nicht leisten. Allerdings hatte sie ihre Gründe, warum sie für sich selbst niemals solch einen verschwenderischen Lebensstil wählen würde.
Die Fahrstuhltüren schlossen sich hinter ihnen, und Dr. Reeves klopfte an die Tür. Jocelyn wartete neben ihm, gespannt, wie ihr potenzieller Klient wohl reagieren würde. Würde er die Tür öffnen, ohne zu fragen, wer da war, oder würde er den Spion benutzen?
Der Kristallknauf drehte sich, und die Tür schwang auf. Ihr Klient brauchte dringend eine Lektion in Sachen Sicherheit.
Bevor sie jedoch weiter darüber nachdenken konnte, fiel ihr Blick auf einen attraktiven blonden Mann im Smoking, dessen gestärktes weißes Hemd am Kragen geöffnet war und dessen schwarze Fliege locker herunterhing. Groß und schlank, aber muskulös, mit genau der richtigen Mischung aus Arroganz und Selbstsicherheit, sah er einfach fantastisch aus.
Er war ein Mann, der auf das Cover von „GQ” gehörte - ein Mann, der Jocelyn den Atem raubte. Bevor sie wusste, was sie tat, war sie schon einen Schritt zurückgewichen.
Du meine Güte, was war mit ihr los? Das hier war ein Geschäftstermin.
Sie unterdrückte ihre weiblichen Instinkte und schaltete ganz schnell wieder ihren Verstand ein. Sie vermutete, dass dieser reiche Arzt eine Reihe von begeisterten Liebhaberinnen gehabt hatte. Vielleicht sollte sie darauf achten, ob die Gefahr in diesem Fall nicht von einem besessenen Fan ausging.
Die grünen Augen des Mannes leuchteten beim Anblick von Dr. Reeves auf, dann ließ er den Blick zu Jocelyn gleiten und betrachtete sie eingehend.
„Mark, was machst du hier?” fragte er und schaute weiterhin Jocelyn und nicht Mark an.
Seine Stimme war ruhig, doch sie hatte einen sinnlichen Unterton, der Jocelyn davor warnte, dass sie es mit einem Playboy zu tun hatte.
Warum auch nicht? Die meisten Frauen lagen ihm wahrscheinlich zu Füßen, nur um für einen Moment das Vergnügen zu genießen, das Objekt dieses feurigen Blickes zu werden.
Er ist ein Klient, ermahnte sie sich erneut. Du solltest nicht solche Gedanken haben.
Er trat einen Schritt zurück. „Kommt herein.”
Dr. Reeves ließ Jocelyn den Vortritt. Sie ging hinein, ihre Schritte wurden gedämpft von dem orientalischen Teppich, und sah sich um: Marmorböden, griechische Säulen, große Räume mit hohen Decken. Leise klassische Musik drang aus dem schwach, aber gemütlich beleuchteten Wohnzimmer direkt vor ihr. Ein Glas Rotwein stand auf einem kleinen Beistelltisch. Daneben lag ein aufgeschlagenes Buch.
Jocelyn sah zu einem mächtigen Kronleuchter über ihr in der Eingangshalle, bevor sie den Blick senkte und die Hand ausstreckte. „Dr. Knight, ich bin Jocelyn Mackenzie.”
Er zögerte einen Moment, dann schüttelte er ihre Hand. „Es freut mich, Sie kennen zu lernen.” Er schaute über die Schulter zu Dr. Reeves. „Was geht hier vor?”
Jocelyn wandte sich um. Dr. Reeves, der Mann, der sie gebeten hatte, für unbestimmte Zeit Dr. Knights Leibwächterin zu sein, suchte nach einer Antwort. Die beiden Ärzte starrten sich ein oder zwei Sekunden lang an.
„Er erwartet uns nicht?” fragte sie Dr. Reeves.
„Sollte ich das?”
Jocelyn wurde wütend. Sie mochte es nicht, hinters Licht geführt zu werden. Genauso wenig wollte sie für jemanden arbeiten, der ihre Hilfe nicht dringend benötigte. Sie hatte geglaubt, Dr. Knight sei ganz erpicht darauf, dass sie bei ihm anfing. Sein Freund, Dr.
Reeves, hatte ihr von dem Einbrecher erzählt, der vor ein paar Nächten in dieses Penthouse eingedrungen war. Am Tag darauf hatte Dr. Knight außerdem einen Drohbrief bekommen.
Verflixt! Dabei hatte sie schon die ersten Erkundigungen über seine Parkgarage, das Krankenhaus, in dem er arbeitete, und den Weg, den er dorthin nehmen musste, angestellt.
„Ich kann das erklären”, sagte Dr. Reeves.
„Was erklären?” wollte ihr potenzieller Klient wissen.
Jocelyn schüttelte den Kopf. „Er wartet, Dr. Reeves, und offen
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