Finns Welt - 01 - Finn released

Frau Kobol nimmt mein Handy, ruft den Förster aber nicht an, sondern knallt es mit dem Display zuerst auf das Pult. Wir zucken zusammen. Ihre Augen funkeln. So sauer war sie noch nie. Sie quiekt und schnattert jetzt auch nicht. Sie ist nicht mehr lächerlich, sondern wirklich böse.
    »Finn Anders, ich halte dich für einen guten Jungen. Aber …«, jetzt kneift sie die Augen zusammen, als beiße sie auf eine Zitrone, »ich finde es un-aus-sprech-lich widerwärtig, dass du den echten Tierunfall vom letzten Mal nutzt, um mir heute Morgen eine billige Ausrede aufzutischen! Mit Leben und Tod macht man keine Scherze. Auch nicht bei Tieren.«
    »Aber Frau Kobol«, widerspreche ich ganz schwach und verzweifelt und quengelnd, gar nicht so, wie ich bin, wenn ich Geschichten erzähle. »Es ist wahr. Es ist doch die Wahrheit.«
    »Raus hier!«, schreit Frau Kobol und für einen Augenblick scheint die Haut ihrer Backen fast zu reißen. Wie ein Weberknecht beugt sie sich über ihr Klassenbuch und macht eine Notiz. »Ich schreibe das auf«, krächzt sie und wir verschwinden schnell auf den Flur. Wortlos gehen wir auf den Hof und reden erst wieder, als wir die Rucksäcke aufmachen, um das Frühstück rauszuholen. Flo hat Knoppers dabei. Wir setzen uns auf die Bank neben den Tischtennisplatten.
    »Heute wieder einen Supermarkt ausgeraubt?«, witzelt Lukas und Flo gibt ihm und mir ein Knoppers ab. Ich nehme es, mache die Folie weg, beiße knuspernd rein, schaue über den Hof und sage: »Ich fasse zusammen. Ich habe in den letzten Tagen zweimal die Wahrheit gesagt. Einmal bei dem Verrückten mit der Dogge und einmal bei Frau Kobol. Einmal wurden wir fast eingesperrt und heute gibt’s Brüllerei und einen Eintrag ins Klassenbuch. Das bringt einem die Wahrheit. Da kann ich doch besser meine Geschichten erzählen.«
    »So ist das«, sagt Flo kauend.
    »Man muss sein Talent ausleben, sonst wird man bestraft«, stimmt Lukas zu. »Das sieht sogar Vivien so. Ich hab ihr von unserer Quest erzählt. Ich glaube, sie war echt total fasziniert von deinem Schauspieltalent, Finn.«
    Ich schmunzle. Mein Herz klopft. Vivien war fasziniert, nur vom Erzählen. Mein Herz darf nicht klopfen. Vivien ist Lukas’ Freundin. Ich überlege, ob es eine Quest wäre, eine Woche lang immer offen die Wahrheit zu sagen. Also in allen Dingen. Selbst wenn man jemanden dabei verletzt. Das wäre wohl zu hart. Dann lieber lügen. Oder besser: gute Geschichten erzählen. Denn wenn die bösen wahr werden, werden es die guten auch.
    »Wusstet ihr, dass es in jedem Millionsten Knoppers auf der Welt einen Gewinncode gibt, mit dem man sofort 250.000 Euro gewinnen kann? Und weil das aber so wenig beworben wird, schmeißen die meisten Leute ihre Verpackung einfach weg und es sind schon Millionen Knoppers verkauft, ohne dass das Geld jemals abgeholt wurde.«
    Lukas kann sich gerade noch in der Bewegung bremsen, aber Flo faltet tatsächlich sein Waffelpapierchen auseinander und sucht mit schmalen Augen nach dem Code, bis er merkt, was los ist. Lukas kommen die Tränen und er knufft Flo in die Seite, bis der mitlacht.
    Gezuckt hat aber auch Lukas, denke ich mir.
    Gezuckt hat auch Lukas.
    Mal sehen, welche Geschichten ich noch erzähle.