Flammen über Arcadion
die Frau seiner Träume war. Noch war das selbstverständlich nicht geschehen, aber sie war zuversichtlich, dass es sich nur noch um eine Frage der Zeit handelte, bis es ihr gelang, ihn auf sich aufmerksam zu machen. Schließlich war er auch bloß ein Mann und hatte doch Augen im Kopf. Und wenn es dann erst …
»Carya!«
Die schneidende Stimme von Signora Bacchettona riss sie aus ihren Gedanken. Voller Schrecken erkannte Carya, dass sie sich in ihren Hirngespinsten verloren hatte. So etwas durfte einem im Unterricht nicht passieren, vor allem dann nicht, wenn man Gesellschaftskunde bei Signora Bacchettona hatte.
Schuldbewusst schnellte sie von ihrem Platz auf. »Ja, Signora?«
»Du wirkst abwesend. Langweile ich dich etwa?«
»Nein, Signora.«
»Lüge nicht, Carya. Du hast geträumt!«
»Nein, Signora.«
Die Blicke der Lehrerin waren wie Dolche, die Carya aufzuspießen drohten. »In dem Fall wirst du mir sicher die Frage beantworten können, die ich der Klasse soeben gestellt habe?«
Sie wusste es. Natürlich wusste sie es. Man konnte Signora Bacchettona nicht täuschen. Das war einer der Gründe, warum sie unter den Kollegen so geachtet wie von ihren Schülern gefürchtet war.
Carya senkte beschämt den Kopf. »Nein, Signora«, gestand sie leise. »Es tut mir leid.«
»Und das sollte es auch«, erwiderte die Lehrerin. »Ist dir überhaupt bewusst, wie privilegiert du bist, dass du die Akademie des Lichts besuchen darfst? Zahllose deiner Altersgenossen mussten die Schule nach der Grundstufe verlassen und arbeiten jetzt bereits in den Fabriken. Die würden gerne mit dir tauschen, um zu lernen, was du lernen darfst. Und jetzt knie nieder und denk den Rest der Stunde über meine Worte nach!«
Mit zusammengepressten Lippen kam Carya dem Befehl nach und kniete sich auf die blanken Steinfliesen. Trotzig zwang sie die Tränen der Scham zurück, die ihr in die Augen zu treten drohten. Sie musste sich nicht umschauen, um zu wissen, dass alle sie in diesem Moment anstarrten, manche, wie Marlo, dankbar, dass der Zorn der Lehrerin nicht sie getroffen hatte, andere, wie Miraela, voll höhnischer Genugtuung.
Carya versuchte, nicht daran zu denken. Sie faltete die Hände wie zum Gebet vor dem Bauch und richtete ihre innere Aufmerksamkeit auf die angenehme Kühle, aber auch unangenehme Härte des Steinbodens unter ihren Knien. Sie hatte nicht aufgepasst und sich auf eine der Fugen zwischen den Fliesen gekniet, ein Umstand, der diese Strafe noch unerfreulicher machte. Doch jetzt ließ sich daran nichts mehr ändern. Denn zöge sie jetzt durch eine unbedachte Bewegung ein weiteres Mal den Zorn von Signora Bacchettona auf sich, würde die Bestrafung sicher noch härter ausfallen.
Glücklicherweise war die Schulstunde zehn Minuten später vorüber.
Kapitel 2
D ie Schulglocke läutete, und Signora Bacchettona gebot Carya und den anderen Schülern aufzustehen. Carya presste die Lippen zusammen, als sie sich von den Steinfliesen erhob. Ihre Kniescheiben taten weh. Aber sie versuchte, sich die Schmerzen nicht anmerken zu lassen, und strich sich nur den knielangen Rock glatt, bevor sie, wie alle anderen, erneut die Hände faltete, um das Abschlussgebet zu sprechen.
Gegrüßet seist du, Licht, das voll der Gnade
uns von dem Herrn, dem Schöpfer, zugesandt.
Du bist das Licht des Lebens,
das Licht des Schutzes,
das Licht des Richtens.
Erhelle unsren Weg in allem Dunkel
und scheine für uns Sünder
jetzt und in der Stunde unsres Todes.
So sei es.
»Gut«, sagte die Lehrerin. »Ihr könnt gehen. Wir sehen uns übermorgen früh.« Mit diesen Worten entließ sie die Klasse. Rasch packte Carya ihre Sachen, hängte sich die Tasche um und verließ den Raum.
In den hohen Säulengängen der Akademie herrschte wildes Gedränge. Hunderte von Schülern strebten schwatzend und lärmend den zwei großen Torbögen entgegen, die in den West- und den Ostflügel des weitläufigen Gebäudekarrees eingelassen waren, in dem sich die Akademie des Lichts befand.
In der Mitte der vier langgestreckten Häuser, die, wie viele Bauwerke Arcadions, noch aus der Zeit vor dem Sternenfall stammten, lag eine kleine Parkanlage mit braunen Kieswegen, niedrigen Hecken, Bänken und kleinen Wasserbecken. Bei schönem Wetter verbrachten die Schüler gerne ihre Zeit hier. Das galt nicht nur für die Pausen zwischen den Schulstunden. Oft saßen auch nach dem Unterricht noch kleine Gruppen Jugendlicher zusammen, um sich über den Tag zu unterhalten oder
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