Flammen über Arcadion
Carya!«
Carya, die gerade das schmiedeeiserne Tor vor dem vierstöckigen Haus geöffnet hatte, in dem sie lebte, hob den Kopf und sah sich um. »Rajael«, rief sie erfreut, als sie das Mädchen erkannte, das die Gasse hinuntergelaufen kam.
Rajael wohnte am oberen Ende der Gasse. Sie lebte dort seit zwei Jahren in einer kleinen Dachkammer zur Untermiete. Ihre Eltern, so hieß es, waren bei einem Fabrikunfall ums Leben gekommen. Seitdem war sie allein. Doch die zierliche Siebzehnjährige mit den hellbraunen Locken und dem schmalen Gesicht ließ sich davon nicht unterkriegen, sondern bestritt mit einer Entschlossenheit ihr eigenes Leben, dass Carya sie nur bewundern konnte.
Die beiden Mädchen hatten sich kurz nach Rajaels Einzug beim Einkaufen auf dem Markt kennengelernt. Beinahe auf Anhieb waren sie sich sympathisch gewesen. Und so hatte sich zwischen ihnen schnell eine enge Freundschaft entwickelt. Carya gefiel, dass Rajael nicht so oberflächlich und zickig war wie Miraela und ihr Hofstaat. Dem anderen Mädchen schien es ähnlich zu gehen. Und so verbrachten sie ganze Nachmittage damit, gemeinsam durch die Stadt zu schlendern, auf dem Aureuswall zu sitzen und hinaus in die Landschaft zu schauen oder in Rajaels kleiner Kammer beisammen zu hocken und sich gegenseitig aus Büchern vorzulesen, die Caryas Eltern für romantischen Quatsch hielten und die daher zu Hause verboten waren.
»Kommst du heute Nachmittag, wenn du mit deinen Hausarbeiten fertig bist, bei mir vorbei?«, fragte Rajael. »Ich habe ein paar neue Bücher in einem Antiquariat gefunden, die ich dir unbedingt zeigen muss.«
Carya schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, aber ich kann nicht«, erwiderte sie. »Ich bin heute Nachmittag bei der Templerjugend. Wir besuchen den Dom des Lichts und machen dort eine Führung mit.«
Rajael schnaubte. »Du immer mit deiner Templerjugend. In letzter Zeit verbringst du viel zu viel Zeit mit diesen Leuten.« Dass das Mädchen die Jugendorganisation des Lux Dei nicht mochte, hatte Carya schon mehrfach zu spüren bekommen. Gegenwärtig war es nur ein geringer Makel an ihrer ansonsten innigen Freundschaft, aber er drohte größer zu werden.
»Sag nicht immer diese Leute «, beschwerte sich Carya. »Das sind meine Freunde.« Genau genommen stimmte das nicht ganz. Die meisten anderen Jugendlichen waren ihr herzlich gleichgültig. Und von einem ganz bestimmten Jungtempler hoffte sie ja, dass er schon bald deutlich mehr als nur ein Freund sein würde.
»Dann hast du dir die falschen Freunde ausgesucht«, erklärte Rajael. »Das sind doch alles nur fromme Lämmer, die dem Licht des Lux Dei folgen.«
Caryas Miene verdüsterte sich. »Jetzt hör auf«, befahl sie der Freundin. »So schlimm ist es wirklich nicht. Und falls du es nicht gemerkt haben solltest: Ich glaube auch an das Licht Gottes. Bin ich deswegen dumm? So klingt das nämlich bei dir.«
Rajael blickte schuldbewusst drein. »Nein, natürlich nicht, Carya. Du bist meine beste Freundin, das weißt du. Ich würde nie schlecht über dich reden. Es … es gefällt mir wohl einfach nicht, dass du neuerdings so viel Zeit mit anderen verbringst.«
Versöhnlich gestimmt legte Carya ihr die Hand auf den Arm. »Komm doch mal mit. Es ist gar nicht so, wie du immer denkst.«
»Nein.« Rajael schüttelte den Kopf. »Das ist nichts für mich, glaub mir.« Sie bedachte Carya mit einem Lächeln, das irgendwie traurig aussah.
»Wie wäre es mit morgen?«, fragte Carya. »Morgen Nachmittag hätte ich Zeit.«
Erneut schüttelte Rajael den Kopf. »Da bin ich schon verabredet.«
Auf einmal wirkte sie ein klein wenig verlegen, was Carya dazu veranlasste nachzuhaken. »Verabredet? Mit wem?«
»Mit einem Freund.«
Unwillkürlich breitete sich ein Grinsen auf Caryas Gesicht aus. »Einem Freund, hm? Wohl eher deinem Freund.«
»Ja, so in etwa«, gestand Rajael gedehnt, und ihre Wangen röteten sich ein wenig.
»Das ist doch wundervoll«, rief Carya aufgeregt. Spielerisch packte sie den Arm der Freundin und drückte ihn. »Wie heißt er? Was macht er? Seit wann kennst du ihn? Du musst mir alles über ihn erzählen, hörst du?«
»Schon gut, schon gut«, erwiderte Rajael lachend und hob abwehrend die Hände. Ihre braunen Augen leuchteten. »Übermorgen, einverstanden? Wir treffen uns bei mir, gehen in die Stadt, und dann reden wir.«
»So machen wir es«, sagte Carya nickend. »Ich freue mich schon darauf.« Sie deutete auf die Haustür hinter ihr. »Aber jetzt sollte ich
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