Flammende Versuchung
klebrigen Mitleid der Gesellschaft zurückgezogen hatte, hatte sie ihn genauso schnell wieder aus den Augen verloren, wie sie sich seiner bewusst geworden war.
Sie hatte alle Artikel in jeglichen Zeitungen gelesen, die ihre sorglose Stiefmutter überall hatte herumliegen lassen. Fasziniert hatte sie das verschlossene Profil betrachtet,
das immer wieder von Künstlern, die mutig und ausdauernd genug waren, vor Brook House auszuharren, um einen Blick auf den mit einem Mal sehr zurückgezogen lebenden Lord zu erhaschen, gezeichnet worden war.
Sie besaß immer noch jede einzelne dieser Zeichnungen, die sie zwischen den Seiten eines Buches gepresst hatte. Sie war damals erst sechzehn gewesen – und er dreißig. Ein nahezu unüberbrückbarer Altersunterschied. Doch sie hatte sich davon nicht entmutigen lassen. Die meisten Leute sahen nur das Gesicht und den Körper, mit dem sie geboren war, und bemerkten darüber nicht, dass sie über einen schier endlosen Vorrat an Geduld und Entschlossenheit verfügte.
Das war ihr gerade recht. Unterschätzt zu werden kam ihr in ihrer damaligen Situation als Tessas gefangene Stieftochter, die mit Blick auf zukünftigen Nutzen an der kurzen Leine gehalten wurde, absolut entgegen.
Sie hatte gewartet, bis sie erwachsen geworden war. Sie hatte mit ihrer Einführung in die Gesellschaft gewartet, bis er wieder aufgetaucht war. Sie hatte gewartet, bis er sich dazu entschlossen hatte, wieder zu heiraten. Sie hatte all die endlos schmerzhaften Wochen gewartet, während derer sie geglaubt hatte, dass Phoebe die Hochzeit durchziehen würde …
Aber Phoebe hatte es nicht getan. Und jetzt hatte Miss Deirdre Cantor nicht länger vor zu warten.
Logik und Effizienz waren die Wege, die sie einschlagen musste – während sie zugleich so unwiderstehlich aussehen musste wie möglich. Sie griff nach dem Ausschnitt ihres Tageskleides und zerrte kurz daran, während
sie zugleich tief einatmete. Es war eine Geste, über die sie nicht mehr nachdenken musste und deren Ergebnis Männer jeden Alters ein anerkennendes Augenfunkeln entlockte.
Sie lächelte grimmig, weil sie das, was sie von Tessa gelernt hatte, in einem solchen Augenblick anwendete, aber sie musste Brookhaven dazu bringen, sie anzuhören. Und dass Männer einem hübschen Dekolleté besser zuhörten, war ein offenes Geheimnis.
Hinter ihr öffnete sich die Tür. Auf geht’s …
Sie drehte sich anmutig um und atmete unmerklich ein. Ein sittsames, erfreutes Lächeln umspielte ihre Lippen. »Mylord, ich…«
Brookhaven stand kerzengerade im Türrahmen, hielt sich im Schatten, während sie im Licht stand – wie sie es geplant hatte, um ihr blondes Haar besonders gut zur Geltung zu bringen -, und für einen kurzen Augenblick verspürte Deirdre den Stich einer bösen Vorahnung.
Er ist nicht der Typ Mann, dem es gefällt, dass man mit ihm spielt. Dieser Mann kann gefährlich werden, wenn man ihn reizt.
Deirdre zögerte kurz. Vor fünf Jahren war die erste Lady Brookhaven auf der Straße kurz vor London auf schreckliche Art ums Leben gekommen, war wie eine Puppe in einem furchtbaren Kutschenunfall zerbrochen. Damals hatte niemand auch nur angedeutete Verdächtigungen gegenüber dem Mann, der jetzt vor ihr stand, geäußert – aber vielleicht hatte sich nur niemand getraut.
Dieser Mann besaß die Macht, die Welt am Laufen zu halten.
Oder, wie in ihrem Fall, sie anzuhalten.
Vor ihrem geistigen Auge erschien das Bild dieses Morgens. Sie hatte in der Kirche gesessen, hatte Brookhaven beobachtet, wie dieser mit Phoebe am Altar gestanden und die Gelübde gesprochen hatte, so leise, dass Deirdre ihn nicht verstehen konnte, so sehr sie sich auch anstrengte. Der Schmerz war überwältigend gewesen, heiß hatte er hinter ihren Augen gebrannt und gedroht, den Stahl aus ihrem Rückgrat zu schmelzen.
Und dann, als Lord Marbrook hereingetaumelt kam, verdreckt und halb verhungert, und Phoebe mit hohlem Blick angefleht hatte, die Zeremonie zu beenden – und es deutlich geworden war, dass Brookhaven Phoebe gar nicht heiratete -
Deirdres atemlose, schwindelig machende Erleichterung in diesem Moment hatte sie eines ganz klar erkennen lassen: Diese Gelegenheit durfte sie sich nicht entgehen lassen.
Sie musste diesen Mann haben.
Zweites Kapitel
O Gott, war sie hinreißend. Calder hatte es irgendwie geschafft, diese Tatsache zu vergessen, als er mit Phoebe verlobt gewesen war – die natürlich selbst recht hübsch war, aber das war nicht der
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